Schriftenreihe des Arbeitskreises
Inobhutnahme der IGFH
- Thematik Inobhutnahme -
Zwischen dem 15-jährigen Stefan1 und seinen Eltern gibt es
zunehmend härtere Auseinander-setzungen. In einem Streit mit
seinem Vater kommt es zu tätlichen Übergriffen
beiderseits. Die Mutter ruft die Polizei. In Folge der eskalierenden
Situation wird Stefan Inobhut genommen.
Familie Müller macht sich schon länger Gedanken
über ihre Nachbarin. Diese lässt ihre beiden kleinen
Kinder oft allein in der abgeschlossenen Wohnung. Eines Nachts, nach
stundenlangen Schreien der Kinder rufen Müllers die Polizei.
Diese holt die Kinder aus der Wohnung und übergibt sie der
Inobhutnahmeeinrichtung der Stadt.
Susanne lebt bereits seit ihrem 7. Lebensjahr in verschiedenen Heimen.
In letzterer Zeit gab es eine Reihe Auseinandersetzungen mit den
Betreuern, schon öfters ist die 14-jährige
für ein paar Tage abgehauen, diesmal ist sie schon 3 Wochen
unterwegs. Ins Heim zurück will sie auf gar keinen Fall. In
einer anderen Stadt meldet sie sich schließlich in einer
Inobhutnahmestelle.
Diese sind nur einige, skizzenhaft dargestellte Beispiele, in denen
eine Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII2 notwendig wird. Diese
Vorschrift schafft die gesetzlichen Rahmenbedingungen für
diejenigen Fälle, in denen eine sofortige Unterbringung eines
Kindes oder Jugendlichen auf Grund seiner akuten Gefahren- oder
Krisensituation notwendig wird.
Der Begriff Inobhutnahme selbst wird mit dem Gesetz
als ein juristischer Terminus eingeführt und ist sowohl in der
wissenschaftlichen Pädagogik als auch in der
sozialpädagogischen Praxis gebräuchlich. Im
wissenschaftlichen Sprachgebrauch wird der Begriff von
„Obhut“ und „in Obhut nehmen“
hergeleitet und weist ein breites Bedeutungsspektrum auf.
Bedeutungsspektrum und Sprachgebrauch „Inobhutnahme“
Das
Wörterbuch der deutschen Sprache kennt das Wort
„Inobhutnahme“ nicht, dafür aber das
Teilwort „Obhut“. Es wird erklärt mit
„fürsorglicher Schutz, Aufsicht“.
Darüber hinaus mit, „jemandes Obhut
anvertrauen“, „sich in jemandes Obhut
befinden“, „jemanden in seine Obhut
nehmen“. Für „Obhut“ finden sich
die Synonyme „Überwachung“ und
„Verteidigung“3 sowie
„Schutz“4. Geht man diesen
Synonymbegriffen weiter nach und untersucht das Umfeld dieser
Wortspektren, kristallisiert sich eine Bündelung in drei
Bedeutungssparten heraus. Diese sind: der eher pädagogische
Begriffsradius von Anleiten und Betreuung (Lenkung, Führung,
Belehrung, Ausbildung, Aufsicht, Vormundschaft, Betreuung,
Verantwortung, Fürsorge, Umsicht, Liebe), der Bereich des
Schutzes und Verteidigung (Sicherheit, Hilfe, Beschützung,
Rettung, Abschirmung, Abwehr, Selbstschutz, Entlastung, Notzeichen),
und den Bereich von Herrschaft (Bewachung, Überwachung,
Kontrolle, Beschränkung, Zwangsmaßnahme,
Einsperrung). Die sprachliche Überprüfung des Wortes
„Obhut“, von dem „Inobhutnahme“
offensichtlich abgeleitet ist, offenbart ein weitreichendes
Bedeutungsspektrum. Es reicht von Fürsorge, Anteilnahme und
Liebe auf der einen Seite zu Überwachung und
Beschränkung auf der anderen Seite, von Umsicht hier zu
Kontrolle dort, von Rettung bis zu Schutzverwahrung.
Begriff der Inobhutnahme
§ 42 Abs. l SGB VIII definiert Inobhutnahme als die
vorläufige Unterbringung eines Kindes oder Jugendlichen bei
einer geeigneten Person, in einer Einrichtung oder einer sonstigen
betreuten Wohnform. Inobhutnahme im Sinne der Vorschrift beinhaltet die
umfassende Sorge für das physische und psychische Wohl des
Kindes oder Jugendlichen, die Beratung in seiner gegenwärtigen
Lage und das Aufzeigen von Möglichkeiten der Hilfe und
Unterstützung (Abs.2). Eine bloße
Unterkunftsgewährung ohne sozialpädagogische
Betreuung und Hilfestellung ist nicht im Sinne des § 42 SGB
VIII. Rechtskommentare und Auslegungen weisen daraufhin, dass die
bloße Gewährung von Unterkunft und die
Sicherstellung der rein physischen Bedürfnisse nur einem
einfachen „verwahren" gleich zusetzten wäre, dem
gesetzlichen Anspruch aber nicht genügen würde5. Der Wandel der Jugendhilfe zu
einer lebenswelt-orientierten Jugendhilfe führte auch dazu,
dass bei der Inobhutnahme in immer größeren Umfang
Konzepte der Krisenintervention umgesetzt wurden. Zum Beispiel ist in
Münders Kommentaren zum § 42 SGB VIII die
Kriseninterventionsarbeit bei der Inobhutnahme zunehmend deutlicher und
zwingender hervorgehoben worden. „ Angebote der Inobhutnahme
entwickeln sich hin zu sozialpädagogischen
Kriseninterventionshilfen“6 wurde 1993 der
sozialpädagogische Aspekt noch kommentiert, während
1999 dies als „Teil umfassender Krisenintervention“7 betrachtet wurde, schreibt er
2003: „Die Unterbringung ist zwingend an eine
sozialpädagogische Krisenintervention und Betreuung
gekoppelt.“8 Im
aktuellen Kommentar sieht Münder die Inobhutnahme nicht nur
als zu betreuende Schutzgewährung, sondern „ Sinn
und Inhalt der Inobhutnahme ist die fachgerechte
sozialpädagogische Krisenintervention.9
Rechtscharakter der Inobhutnahme
Die Inobhutnahme ist ein Verwaltungsakt und kann als dieser im
Rechtswege angefochten werden.
Auch bei einer Unterbringung in der freien Jugendhilfe bleibt die
Verantwortung für die Inobhutnahme beim Träger der
öffentlichen Jugendhilfe. Ansprüche Dritter richten
sich folglich gegen diesen und nicht gegen den mit der Inobhutnahme
beauftragten Träger oder die Einzelperson für eine
unterlassene oder unzureichende Gestaltung oder Ausführung der
Inobhutnahme. Der öffentliche Träger kann den freien
Träger oder die mit der Inobhutnahme beauftragte Einzelperson
bei unzureichender Erfüllung seiner Aufgaben in Regress nehmen.
Aus Gründen der Rechtssicherheit und späteren
Überprüfbarkeit ist es geboten, einen Verwaltungsakt,
mit dem eine Inobhutnahme abgelehnt wird, schriftlich abzufassen. Dies
gilt auch für eine gegen den Willen des
Minderjährigen durchgeführte oder bei mit
Freiheitentzug verbundener Inobhutnahme.
Geschützter
Personenkreis
In
Obhut genommen werden können nur Kinder und Jugendliche. Kind
im Sinne des SGB VIII ist, wer noch nicht 14 Jahre alt ist (§
7 Abs. l Nr. l SGB VIII), Jugendlicher wer 14, aber noch nicht 18 Jahre
alt ist (§ 7 Abs. l Nr. 2 SGB VIII). Dieses gilt auch
für ausländische Kinder und Jugendliche, die
unbegleitet nach Deutschland kommen und sich weder Personen- noch
Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten.
Volljährige, auch junge Volljährige im Sinn des
§ 7 Abs. l Nr. 3 SGB VIII können nach dieser
Vorschrift nicht in Obhut genommen werden.
Das
Jugendamt muss aus seiner Beratungspflicht heraus bis zum vollendeten
27. Lebensjahr bei der Vermittlung in eine geeignete Einrichtung (z. B.
Frauenhaus) behilflich sein, wenn sich ein Volljähriger in
einer Krisensituation befindet. Der Volljährige ist bei einer
dringenden Gefahr, bei Selbst- oder Fremdgefährdung nach den
allgemeinen Polizeigesetzen oder den Unterbringungsgesetzen der
Länder in Verwahrung zu nehmen. Auch § 41 SGB VIII
(Hilfen für junge Volljährige) sieht keine
vorläufigen Schutzmaßnahmen vor, sondern ist auf
längerfristige Hilfsangebote angelegt.10 Dies kann in der Praxis
mitunter zu Problemen führen, wenn junge Volljährige
sich in einer akuten Gefahren- oder Krisensituation befinden, aufgrund
ihres Entwicklungsstandes bzw. seelisch/geistiger Behinderung jedoch
nicht in der Lage sind, entsprechende Schritte selbst einzuleiten.
Inobhutnahme auf Wunsch der
Minderjährigen (Selbstmelder)
§ 42 Abs. (1)1. SGB VIII räumt
sogenannten Selbstmeldern eine eindeutiges Recht ein, in Obhut genommen
zu werden, wenn sie als Minderjährige darum bitten. Dies ist
als eine Verpflichtung für das Jugendamt, bzw. der
aufnehmenden Einrichtung – beim Vorliegen einer Vereinbarung,
in der dem Träger dies zugestanden wird - zu verstehen,
gleichgültig mit welcher Begründung der/die
Minderjährige um Inobhut bittet und ob diese
Begründung überzeugend ist, diesen aufzunehmen.
So haben die Kinder und Jugendlichen aus Sicht des SGB VIIIs einen
Rechtsanspruch auf Inobhutnahme. Für das Jugendamt, bzw. die
aufnehmende Einrichtung liegt eine Amtspflichtverletzung bei
Verweigerung einer Inobhutnahme vor.
Vorläufiger
Charakter der Inobhutnahme
Inobhutnahme
wird im Gesetz als „vorläufige Unterbringung"
definiert. Der Begriff „vorläufig" verdeutlicht,
dass die Inobhutnahme nur vorübergehenden Charakter haben
kann, sie dient der Bewältigung einer aktuellen Krise oder
Notlage des Minderjährigen und der Feststellung, welche
Ressourcen oder weiterführenden Hilfen für sein
künftiges Wohl ggf. geeignet und notwendig sind. Die Dauer der
Inobhutnahme richtet sich im konkreten Einzelfall nach der jeweiligen
Situation, Krise oder Gefährdung und der Klärung der
Perspektive. Aus dem Gesetz lassen sich keine konkreten
Höchst- oder Mindestfristen ableiten. Das Ende der
Inobhutnahme ist im Gesetzestext lediglich an 2 Vorgaben gebunden. In
Absatz 4 heißt es dazu, dass die Inobhutnahme endet, mit 1.
der Übergabe des/der Minderjährigen an den
Personensorge- oder Erziehungsberechtigten oder 2. einer Entscheidung
über die Gewährung von Hilfen nach dem
Sozialgesetzbuch.
Die Verweildauer muss sich deshalb nach der pädagogischen
Notwendigkeit richten und hängt nicht zuletzt von der
Wirksamkeit ermittelter Ressourcen oder der zu leistenden Beratung,
Hilfe und Unterstützung ab.11 Dabei gilt, „sie
sollte so kurz wie möglich und so lange wie nötig
sein ( M. Busch: Begriff, Inhalt und Umfang der Inobhutnahme In:
Zentralblatt für Jugendrecht, H. 3/93, S. 129 – 135).
Auswahl
der Unterbringungsmöglichkeiten
Das
Gesetz stellt im ersten Absatz 3 verschiedene Möglichkeiten
gleichberechtigt nebeneinander, demnach kann der Minderjährige
-
bei einer geeigneten Person
-
in einer Einrichtung oder
-
in einer sonstigen Wohnform
untergebracht werden. Gleichzeitig beinhaltet dies
eine Verpflichtung des öffentlichen Trägers,
differenzierte Angebote im notwendigen Umfang im Rahmen seiner Gesamt-
und Planungsverantwortung (§ 79 SGB VIII) zur
Verfügung zu stellen. Dabei sollte auf ein möglichst
plurales Angebot geachtet werden. Unter den rechtlich vorgegebenen und
tatsächlich vorhandenen Unterbringungsmöglichkeiten
ist diejenige auszuwählen, die den Bedürfnissen des
Minderjährigen in seiner gegenwärtigen Lage und
seinem Wohl am meisten entspricht. Die Intensität der Hilfe,
der das Kind oder der Jugendliche bedarf, ist abhängig vom
Ausmaß der Krise oder der Gefährdung, in der es sich
befindet. Bei der Entscheidung über die Art der Unterbringung
sind deshalb alle bekannten Kriterien des Einzelfalls zu
berücksichtigen, wie Alter, Ursachen des Weglaufens, Art und
Ausmaß von Beziehungsstörungen zu den Eltern oder
anderen Bezugspersonen, Ausmaß der gegenwärtigen
Ängste etc.. So kann für ein kleines Kind in der
Regel die Unterbringung in der Familie einer geeigneten Person am
sinnvollsten sein, während ein in seiner
gegenwärtigen Lage schwer verhaltensgestörter
Jugendlicher möglicherweise besser in einer Einrichtung mit
ausreichend vorhandenem Fachpersonal untergebracht wird.
Sozialpädagogische
Hilfeleistung
§
42 Abs. 2 SGB VIII bildet die sozialpädagogische Leitnorm der
Vorschrift. Darin wird ausdrücklich bestimmt, dass das
Jugendamt für das Wohl des Minderjährigen zu sorgen
hat und ihn insbesondere in seiner gegenwärtigen Lage zu
beraten, sowie Möglichkeiten der Hilfe und
Unterstützung aufzuzeigen hat. Durch die Beratung soll dem
Minderjährigen eine intensive pädagogische
Hilfestellung gegeben werden, um die Ursachen des Konflikts zu
klären und Lösungsansätze zu entwickeln.
Neben den äußerlich zu beobachtbaren
Umständen wie körperliche Verfassung, Grad der
Verstörtheit etc. sind insbesondere die Gründe von
Bedeutung, die den Minderjährigen in diese Krisensituation
gebracht haben. Zur Sachverhaltsermittlung sind ggf. auch andere
Personen oder Stellen zu befragen. Dies können die
Sorgeberechtigten sein, die Pflegeeltern, das Heim, etc., sofern dies
möglich ist und aus pädagogischer Sicht nichts
dagegen spricht (etwa, wenn der Minderjährige diesen Kontakt
ausdrücklich nicht wünscht). Eine Datenerhebung bei
Dritten ohne Mitwirkung des Betroffenen wird durch das Gesetz unter den
Voraussetzungen des § 62 Abs. 3 Nr. 2 c SGB VIII
ausdrücklich zugelassen. Dies wird damit begründet,
dass erst auf der Basis einer umfassenden Sachverhaltsermittlung eine
sinnvolle Beratung erfolgen kann. Unter gegebenen Umständen
kann die Beratung auch ohne Kenntnis des Sorgeberechtigten erfolgen
(§ 8 Abs. 3 SGB VIII). Die Beratung soll zunächst
dazu dienen, die aktuelle Krisen- und Konfliktsituation zu
entschärfen, aber auch, falls erforderlich, weitergehende
Perspektiven für das Kind oder den Jugendlichen aufzuzeigen.
Möglichkeiten der Unterstützung bieten die
Hilfsmöglichkeiten nach dem SGB VIII oder aber auch andere
Beratungsangebote (z. B. Drogenberatung, Kinder- und
Jugendpsychiatrische Behandlung, etc.)12.
Dem Minderjährigen sollen in diesem Zusammenhang die
vorhandenen Möglichkeiten einschließlich ihrer Vor-
und Nachteile dargelegt werden. Dabei kann es jedoch noch nicht um
Entscheidungen gehen, die im Einvernehmen mit dem PSB getroffen werden
müssen.
Pflichten
des Jugendamtes
Die
im folgenden beschriebenen Pflichten des Jugendamtes bestehen
unabhängig davon, ob die Inobhutnahme auf Bitte des
Jugendlichen, oder wegen einer dringenden Gefahr für sein Wohl
erfolgt; sie sind auch unabhängig davon, ob die Inobhutnahme
mit freiheitsentziehenden Maßnahmen verbunden ist, oder nicht.
Sicherstellung
des Unterhalts und der Krankenhilfe
Während
der Inobhutnahme ist nach Absatz 2 Satz 3 insgesamt für das
Wohl des Minderjährigen zu sorgen. Dies bedeutet bei
Unterbringung den notwendigen Unterhalt und die Krankenhilfe
(§§ 39,40 SGB VIII) sicherzustellen. Insoweit kann
auf die Annexleistung der Hilfen zur Erziehung verwiesen werden (vgl.
§ 39 f.). Nach § 39 Abs. 2 Satz 2 erhält der
Minderjährige auch ein (alters-)angemessenes Taschengeld.13
Benachrichtigung
einer Vertrauensperson durch den Minderjährigen
Nach
Absatz 2 Satz 2
ist mit der Inobhutnahme dem Minderjährigen
„unverzüglich“ (ohne schuldhaftes
Verzögern, vgl.
§ 121 BGB) die Gelegenheit zu geben, eine Person seines
Vertrauens
zu benachrichtigen. Das Jugendamt muss den Minderjährigen auf
diese Möglichkeit hinweisen. Vertrauensperson kann jede Person
sein, die der Minderjährige als solche benennt. Welche Person
der
Minderjährige für eine Person seines Vertrauens
hält,
bestimmt der Minderjährige selbst. Der Minderjährige
ist
nicht verpflichtet, die Person, die er benachrichtigen möchte,
namentlich zu benennen, sondern ihm muss die Gelegenheit gegeben
werden, diese selbst (meist telefonisch, aber auch per SMS, E-Mail oder
schriftlich möglich) zu benachrichtigen. Dies gilt
unabhängig
davon, ob das Jugendamt diese Person für
vertrauenswürdig
hält. Das Jugendamt hat im Fall der Personenkenntnis nur in
extremen Ausnahmefällen (z.B. bei einem Zuhälter oder
Dealer)
nach Sinn und Zweck des Schutzgedankens die Möglichkeit, die
Kontaktaufnahme zu unterbinden, wenn diese als solche schon zu einer
erheblichen Gefahr für das Kindeswohl führt.14
Unterrichtungspflicht
gegenüber dem Personensorge-/ Erziehungsberechtigten
Nach
§ 42 Absatz 3 ist das Jugendamt im Falle des Absatzes 1 Satz 1
und 2 verpflichtet, den Personensorge- oder Erziehungsberechtigten
„unverzüglich" von der Inobhutnahme zu unterrichten.
Die Unterrichtungspflicht folgt aus dem elterlichen Sorgerecht. Der
Begriff „unverzüglich" meint nicht
„sofort" sondern nach einer angemessenen Zeit zur
Prüfung, Überlegung und Entscheidung. Diese
Vorschrift ist auch im Zusammenhang der Sorge für das Wohl des
Minderjährigen zu sehen, denn durch die Benachrichtigung
allein kann bereits eine Gefährdung des Kindeswohls eintreten.
Deshalb muss vorher genügend Zeit zur Abklärung, zur
Beratung und Unterstützung des Minderjährigen bleiben.15 In der
Gesetzesbegründung wird ausdrücklich darauf
hingewiesen, dass Kinder und Jugendliche die Dienste von
Krisennotdiensten nicht in Anspruch nehmen würden, wenn ihre
Aufgabe nur darin bestünde, sie möglichst
unvermittelt wieder ihren Eltern zu übergeben. Konkrete
Zeitangaben sind hierbei schwierig. Zeiträume von 1-2, auch 3
Tagen können im Einzelfall durchaus angemessen sein. Ist
abzusehen, dass eine Abklärung (insbesondere aufgrund der
ernsthaften Weigerung des Minderjährigen, seine Eltern
über seinen Verbleib aufzuklären) nicht kurzfristig
geleistet werden kann, müssen die Eltern ggf. mittelbar
über die Polizei oder Schutzstelle darüber informiert
werden, dass ihr Kind in der Obhut des Jugendamtes ist.16 Zu unterrichten ist der
Personensorgeberechtigte (§ 7 Abs. l Nr. 5 SGB VIII), wenn
dies nicht möglich ist, der Erziehungsberechtigte (§7
Abs. l Nr. 6 SGB VIII). Im Regelfall muss den
Personensorge-/Erziehungsberechtigten auch der konkrete Aufenthaltsort
des Minderjährigen mitgeteilt werden. In
Ausnahmefällen , z.B. beim Verdacht der Kindesmisshandlung
oder des sexuellen Missbrauchs, kann hiervon abgesehen werden, dann
muss jedoch unverzüglich das Familiengericht eingeschaltet
werden, dem dann auch mitzuteilen ist, dass dem Personen- bzw.
Erziehungsberechtigten der konkrete Aufenthaltsort verschwiegen wurde.17
Reaktion
des Personensorge- oder Erziehungsberechtigten / Einschaltung des
Gerichts
Entsprechend
dem sozialpädagogischen Grundverständnis ist es
angezeigt, nicht nur mit dem Minderjährigen, sondern auch mit
den Personensorge-/Erziehungsberechtigten Möglichkeiten der
Hilfe und Unterstützung zu besprechen. Wenn der Personensorge-
oder Erziehungsberechtigte mit der Inobhutnahme einverstanden ist, kann
diese als vorläufige Maßnahme weitergeführt
werden, und es können weitere Möglichkeiten der Hilfe
aufgezeigt und erörtert werden. Widerspricht der
Personensorge- oder Erziehungsberechtigte der Inobhutnahme (der
Widerspruch ist an keine Form oder Frist gebunden), hat das Jugendamt
nach § 42 Absatz 3 Satz 2 zwei
Möglichkeiten, entweder
-
den Minderjährigen dem
Personensorge- oder Erziehungsberechtigtenunverzüglich zu
übergeben sofern nach Einschätzung des Jugendamtes
eine Gefährdung des Kindeswohls nicht besteht oder die
Personensorge- oder Erziehungsberechtigten bereit und in der Lage sind,
die Gefährdung abzuwenden oder
-
eine Entscheidung des
Familiengerichts über die erforderlichen Maßnahmen
zum Wohle des Kindes oder des Jugendlichen herbeizuführen.
Keinesfalls kann das Jugendamt aus eigenem Recht
das Kind oder den Jugendlichen gegen den Willen des Personen- oder
Erziehungsberechtigten weiterhin in Obhut behalten, auch nicht, wenn
das Kind oder der Jugendliche dies wünscht. Eine solche
Maßnahme gegen den Willen des Personensorgeberechtigten kann
nur das Gericht anordnen.18 Bis zur Übergabe hat
das Jugendamt für das Wohl des Minderjährigen zu
sorgen.
Ende der Inobhutnahme
Das Gesetz
gibt eine genaue Zeitgrenze für die Dauer der Inobhutnahme
zurecht nicht vor. Inobhutnahme muss sich grundsätzlich auf
kurzfristige, vorläufige Intervention beschränken.
Krisenintervention muss auf die konkrete Konflikt- und Notsituation im
Einzelfall gerichtet sein und verträgt keine pauschale
Begrenzung auf einen bestimmten Zeitraum.19
Sind Konflikte, Krisen gelöst, können
Personensorgeberechtigte Gefahren selbst abwenden und drohen keine
weitere Gefahren für das Wohl des Minderjährigen wird
er den Personensorgeberechtigten übergeben (Absatz 4 Nr.1).
Grundsätzlich ist es vorrangige Aufgabe des Personensorge-
oder Erziehungsberechtigten, den Minderjährigen abzuholen. Ist
dies nicht möglich ergibt sich nachrangig eine Verpflichtung
des Jugendamtes insbesondere Kinder bis nach Hause oder dem Ort der
Übergabe zu begleiten. Beendigung der Inobhutnahme nach Absatz
4 Nr. 2 , Entscheidung über Gewährung von Hilfen nach
dem Sozialgesetzbuch, darf eine Inobhutnahme nicht beendet werden,
bevor nicht eine Überleitung in eine andere Hilfeform
tatsächlich erfolgt ist, wenn der Minderjährige nicht
zwischenzeitlich gefahrlos an seine Eltern übergeben werden
kann.20
Anforderungen
an die Inobhutnahme
Gerade
auf dem Hintergrund dieser einer Krise innewohnenden
Möglichkeiten für die Entwicklung von Kinder und
Jugendlichen erscheint ein fachlich hoher Standard in der
pädagogischen Arbeit unabdingbar.
So können und müssen Situationen mit mitunter
traumatisierendem Potential für Kinder und Jugendliche nicht
nur aufgefangen, sondern auch bearbeitet und einer möglichen
Lösung zugeführt werden. Wie dies am Anfang gelingt,
ist von entscheidender Bedeutung zur Vermeidung der Gefahr einer
manifesten Traumatisierung oder Entwicklung anderer
Auffälligkeiten bei den Minderjährigen.
Auf diesem Hintergrund sollten unbedingt sozialpädagogische
Standards für diese anspruchsvolle und schwierige Arbeit
gewährleistet sein.
Eine gründliche und umfangreiche Dokumentation muss ebenfalls
diesen Maßstäben angepasst sein. Ferner ist zu
prüfen, inwieweit etablierte Verfahren zur Diagnostik in der
Inobhutnahme einfließen können, bzw. im Sinne der
adäquaten Hilfe für die Minderjährigen
entwickelt werden.
AKI,
Januar 2007
1) Namen der Fallbeispiele
geändert.
2) siehe
Link: Gesetzestext § 42 SGB VIII
3) siehe
Wehrle – Eggers (1989): Deutscher Wortschatz, Ein Wegweiser
zum treffenden Ausdruck, 15. Aufl.,
Stuttgart:
Kohlhammer Verlag
4) siehe
Görner, H., Kempcke, G. (Hrsg.) (2000): Wörterbuch
Synonyme, 2. Aufl., München: Taschenbuch-Verlag
5) siehe Münder J.
u.a.(2006): Frankfurter Kommentar zum SGB VIII: Kinder- und
Jugendhilfe, 5. vollständig
überarbeitete Auflage,
Weinheim und München, Juventa- Verlag, § 42 Rz 2 und
Rz 26
6) zitiert:
Münder, J. u.a. (1993): Frankfurter Lehr- und Praxiskommentar
zum KJHG, 2. überarb. Aufl.,
Münster: Votum – Verlag, Rz 2
7) zitiert: Münder,
J. u.a. (1998): Frankfurter Lehr- und Praxiskommentar zum KJHG / SGB
VIII , 3. überarb. Aufl.,
Münster: Votum –
Verlag, Rz 1
8) zitiert: Münder, J. u.a. (2003):
Frankfurter Kommentar zum SGB VIII: Kinder- und
Jugendhilfe, Weinheim, Berlin,
Basel:
Beltz - Verlagsgruppe Rz 27
9) zitiert:
Münder, J. u.a. (2006): Frankfurter Kommentar zum SGB VIII:
Kinder- und Jugendhilfe, 5. vollständig
überarb. Aufl.,
Weinheim und München, Juventa – Verlag, §
42, Rz 19
10) siehe.
Münder, J. u.a. (2006): Frankfurter Kommentar zum SGB VIII:
Kinder- und Jugendhilfe, 5. vollständig
überarb.
Aufl., Weinheim und München, Juventa – Verlag,
§ 42, Rz 10
11)
siehe Münder, J. u.a.
(2006): FrankfurterKommentar zum SGB VIII: Kinder- und Jugendhilfe, 5.
vollständig
überarb. Aufl., Weinheim und
München, Juventa – Verlag, § 42, Rz 47
12) siehe
Lakies (1997): Vorläufige Maßnahmen zum Schutz von
Kindern und Jugendlichen, §§ 42 und 43 SGB
VIII, Stutgart: Boorberg Verlag, S. 28 und Münder,
J. u.a. (2006): Frankfurter Kommentar zum SGB VIII:
Kinder- und
Jugendhilfe, 5. vollständig
überarb. Aufl., Weinheim und München, Juventa
– Verlag, §
42, Rz 26 , 27
13)
siehe Münder, J. u.a. (2006): Frankfurter
Kommentar zum SGB VIII: Kinder- und Jugendhilfe, 5. vollständig
überarb. Aufl.,
Weinheim und München, Juventa – Verlag, §
42, Rz 35
14)
siehe Münder, J. u.a. (2006):
Frankfurter Kommentar zum SGB VIII: Kinder- und Jugendhilfe, 5.
vollständig
überarb.
Aufl., Weinheim und München, Juventa – Verlag,
§ 42, Rz 30
15)
siehe Münder, J. u.a. (2006):
Frankfurter Kommentar zum SGB VIII: Kinder- und Jugendhilfe, 5.
vollständig
überarb.
Aufl., Weinheim und München, Juventa – Verlag,
§ 42, Rz 36
16)
siehe Münder,
J. u.a. (2006): Frankfurter Kommentar zum SGB VIII: Kinder- und
Jugendhilfe, 5. vollständig
überarb.
Aufl., Weinheim und München, Juventa – Verlag,
§ 42, Rz 36
17)
siehe Lakies (1997): Vorläufige
Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen,
§§ 42 und 43 SGB
VIII, Stutgart: Boorberg Verlag, S. 31 mit weiterem Verweis
und Münder,
J. u.a. (2006): Frankfurter
Kommentar zum SGB VIII: Kinder-
und Jugendhilfe, 5. vollständig überarb. Aufl.,
Weinheim und München,
Juventa
– Verlag, § 42, Rz 37
18)
siehe Münder, J. u.a. (2006):
Frankfurter Kommentar zum SGB VIII: Kinder- und Jugendhilfe, 5.
vollständig
überarb.
Aufl., Weinheim und München, Juventa – Verlag,
§ 42, Rz 41
19) siehe
Münder, J. u.a. (2006): Frankfurter Kommentar zum SGB VIII:
Kinder- und Jugendhilfe, 5. vollständig
überarb.
Aufl., Weinheim und München, Juventa – Verlag,
§ 42, Rz 47
20) siehe
Münder, J. u.a. (2006): Frankfurter Kommentar zum SGB VIII:
Kinder- und Jugendhilfe, 5. vollständig
überarb.
Aufl., Weinheim und München, Juventa – Verlag,
§ 42, Rz 49 ff
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