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Fachgruppe Inobhutnahme
AKI
der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH)

Frankfurt/Main
Sektion Bundesrepublik Deutschland
der Fédération Internationale des Communautés Educatives (FICE) e.V.

  

Schriftenreihe des Arbeitskreises Inobhutnahme der IGFH
- Krisen / Krisenintervention -

1 Krisen und Krisenintervention
1.1 Was sind Krisen
1.1.1 Der Krisenzustand und deren zeitliche Erstreckung
1.1.2 Krisenauslöser
1.2. Krisentheorien
1.2.1 Theorien zu Krisenverläufen
1.2.2 Theorien zu Krisenentstehung
1.3 Krisenbewältigung
1.4 Zum Verständnis der Adoleszenzkrise
1.5 Ausgewählte Ursachen und Einflussfaktoren von Krisen
  • Gesellschaftliche Faktoren
  • Biographische Faktoren
  • Familiäre Faktoren 
1.6 Ausgewählte Reaktionsmuster auf  Krisen
  • Vernachlässigung
  • Gewalt
  • Flucht
1.7 Krisenintervention
1.7.1 Erstkontakt / Aufnahmesituation
1.7.2 Problemanalyse
1.7.3 Problemdefinition
1.7.4 Zieldefinition
1.7.5 Problembearbeitung
1.7.6 Abschluss/ Re- Evaluation/ Evaluation
1.8 Interventionsmethoden und sozialpädagogische Ansätze
1.8.1 Lebensweltorientierte Sozialarbeit 
1.8.2 Systemische Herangehensweise
1.8.3 Multiperspektivische Fallarbeit
1.8.4 Empowerment 

Anlagen:

Anlage 1                  Paradigma:
                               
Wie Ausgleichsfaktoren bei belastenden Erlebnissen wirken 

Anlage 2                  Phasen der Krisenintervention

Anlage 3                  Ablauf einer Krisenintervention 

Anlage 4                  Leitfaden zur Krisendiagnostik 

 
Literaturverzeichnis 


 

1  Krisen und Krisenintervention
Krisen gehören zur Entwicklung von Kindern und Jugendlichen und zum Prozess des Erwachsenwerdens als etwas Selbstverständliches dazu. Jedes Kind, jeder Jugendliche erlebt in der Entwicklung Krisen, die mehr oder weniger gut mit Hilfe von Eltern, Freunden und anderen Bezugspersonen überstanden werden. ( siehe Punkt 1.4) Viele Kinder und Jugendliche müssen neben diesen normalen Krisen aber auch Krisen in ihrem Leben durchstehen, die nicht entwicklungsbedingt sind, sondern aus ihren Lebensverhältnissen und –bedingungen heraus entstehen. (siehe Punkt 1.5) Kinder reagieren auf ihre Lebenssituation. Sie reagieren auf Gewalt, Unterversorgung, Überversorgung, Instabilität, Perspektivlosigkeit. Daher ist es wichtig, nicht nur die Symptome z.B. das Weglaufen, gewalttätiges oder kriminelles Verhalten zu sehen. (siehe Punkt 1.6) Entscheidend für das Verstehen von Krisen und Krisenäußerungen von Kindern und Jugendlichen ist, wie mit der Krise umgegangen wird. Die Intervention in einer belastenden Lebenssituation sollte immer in Absprache mit den Betreffenden zusammen erfolgen. Die Krisenintervention beinhaltet also zum einen die Abwendung einer physischen Notlage, zum anderem die Abwendung der psychischen Notlage. Die geschieht u. a. unter der pädagogischen Vorgabe, so kurz wie möglich und so lang wie nötig.
 
1.1  Was sind Krisen
Der Begriff Krise (griechischen: Krisis: Wettstreit, Entscheidung) bezeichnet Situationen, in denen es sich entscheidet, ob ein Prozess oder eine Entwicklung einen günstigen oder ungünstigen Verlauf nimmt. Der Begriff wird sowohl auf äußere Situationen oder Ereignisse, als auch auf äußere Situationen bedingten individuelle oder soziale Problemzustände angewendet. 1)    Auf situativer Ebene werden z.B. entscheidende Veränderungen in sozialen Beziehungen und „Rollenübergangsperioden“ (siehe Punkt 1.3), Veränderungen im beruflichen Bereich, Änderungen des Gesundheitszustandes, schwere Verluste und Katastrophen als typische Kategorien von Krisenereignissen genannt. Nicht die äußeren Faktoren an sich werden als Krise bewertet , sondern erst die Relation zwischen den Bewältigungskompetenzen – und Ressourcen und der subjektiven Bewertung der Situation. Zwischen empfundenen Auswirkungen einer belastenden Situation und der Beseitigung des Problems liegen Ausgleichsfaktoren. Stärke und Schwächen dieser Faktoren können sich unmittelbar darauf auswirken, ob es zu einer Krise kommt oder nicht. 2)  Im Schema der Anlage 1 ist die Wirkung von Ausgleichsfaktoren auf Entstehung von Krise dargestellt .
 
Von einer Krise kann man erst sprechen, wenn,
  • ein Zustand psychischer Belastung eingetreten ist, der sich deutlich von der Normalbefindlichkeit abhebt, als nicht mehr erträglich empfunden wird und zu einer emotionalen Destabilisierung führt,
  • die Ereignisse und Erlebnisse, die bisherigen Lebensgewohnheiten und –umstände und die Ziele massiv in Frage stellen oder unmöglich machen,
  • die Situation nach Lösungen verlangt, die aber mit den bisher verfügbaren Möglichkeiten der Problemlösung oder Anpassung nicht bewältigt werden können.3)  
Krise wird gesehen als ein Katalysator persönlicher und sozialer Entwicklung, wobei alte Gewohnheiten zerstört, neue Reaktionen hervorgerufen und neue Entwicklungen gebannt werden. 4)  
   
Die wichtigsten Charakteristika einer Krise sind folgende:
  • Krisen kommen akut, überraschend, mit dem Charakter des Bedrohlichen, sind mit Verlusten oder Kränkungen verbunden, stellen bisherige Werte und Ziele in Frage, erzeugen Angst und Hilflosigkeit, verlangen nach rascher Entscheidung.
  • Jede Krise bringt eine Labilisierung mit sich, sowohl auf der innerpsychischen, als auch auf der sozialen Ebene.
  • Krisen beinhalten eine erhöhte Beeinflussbarkeit, die dazu führen kann, dass Verhaltensweisen (z.B. Passivität, Hospitalisierung, Schulverweigerung) sich stabilisieren.
  • In der labilen Phase können kleine Ursachen große Wirkungen haben: z.B. ein Wort führt zu Aggressionen mit unabsehbaren Folgen für die Zukunft. 5)  
1.1.1 Der Krisenzustand und dessen zeitliche Erstreckung

Krisen gehören zum menschlichen Leben und dessen Entwicklung. Die meisten Menschen erleben Verluste, bedrohliche Krankheiten, Trennungen, den Zwang der Entscheidung, Schwierigkeiten der ökonomischen Absicherung, Belastung durch Lebensübergänge, ungewisse Perspektiven. Manche erleiden Gewalttätigkeiten, Missbrauch oder schwere körperliche Schädigungen. Sie durchleben damit verbundene Reaktionen wie Trauer, Schmerz, körperliches Unwohlsein, Spannungen, Unruhe Selbstzweifel, Angst, Einsamkeitsgefühle, Verzweiflung. Typische Erscheinungsformen einer Krise sind psychische und/oder auch somatische Zeichen. Die psychische Krisensymptomatik kann hierarchisch geordnet werden und ist in verschiedene Klassifikationen (z.B. ICD 10 6) und DAS-III-R 7) für Stress- und Krisenreaktionen auf traumatische Ereignisse) klassifiziert.
So können erhöhte Spannung, Nervosität Unsicherheit, Ängstlichkeit Irritationen, Aggressivität oder Autoaggressivität, Depressivität, inadäquates Verhalten bis hin zu wahnhaften Projektionen, Beziehungs- und Verfolgungsideen oder Halluzinationen als psychische Krisensymptome auftreten . Letztere Ausmaße von Krisen sollten psychiatrisch behandelt werden. Die somatischen Zeichen einer Krise sind vielfältig, lassen sich aber im Gegensatz zu den psychischen Phänomenen weniger in einer Hierarchie ordnen.
Somatische Zeichen umfassen u.a.: Hyperventilation, Asthma, Blutdruckerhöhung, Störung der Verdauung, Menstruationsstörungen, aufbrechen von Ekzemen, muskuläre und neurologische Störungen, Infektionsbereitschaft und Erschöpfung.8)  Auch extreme Nervosität, Unkonzentriertheit, enorme Gleichgültigkeit, totaler Rückzug und Verschlossenheit können Ausdruck von Krisen sein. Diese Ausdrucksformen finden wir bei Kindern und Jugendlichen in der Inobhutnahme in der Regel. Krisen sind zeitlich begrenzte Zustände, die einen Anfang und einen offenen Ausgang haben. 9) Sie treten ein, wenn die Auswirkung des auslösenden Ereignisses in ihrer subjektiven Bedeutsamkeit für die Person in ihrem ganzen Ausmaß durchschlagen und die bisher zur Verfügung stehenden Mittel zu ihrer Bewältigung nicht ausreichen. Der Zeitraum einer akuten Krise ist ein Prozess des erfolglosen Suchens und Erprobens von Lösungen, der von Hin- und Herschwanken zwischen emotionalen und instrumentellen Techniken, von Annäherungs- und Vermeidungsverhalten, als Wechsel zwischen Kopf-in-den-Sand-stecken und aktivem Tätigwerden begleitet wird. Caplan (1964) betont, eine Krise sei typischer Weise auf einen Zeitraum von 4 bis 6 Wochen begrenzt. Dieser Zeitraum stellt eine Übergangsphase dar, die einerseits Gefahren einer erhöhten psychischen Verletzlichkeit in sich birgt, andererseits aber auch die Chance des Persönlichkeitswachstums. 10)  

1.1.2 Krisenauslöser
 

Krisen haben identifizierbare Auslöser, die eine große Variabilität haben.
Grundsätzlich lassen sich Krisenanlässe zwei Arten von Ereignissen zuordnen:
  • ein Verlust oder erlittene Schädigung hat statt gefunden. Somit ist das Ergebnis irreversibel. (z.B. in der Prüfung versagt).
  • eine Bedrohung, Überforderung liegt vor, bzw. es droht diese (z.B. Trennung vom Partner, familiärer Stress; entwicklungsgeschichtliche Veränderungen)
Colberg (1778) unterscheidet die zwei Arten klar in Lebensveränderungskrisen oder normative Krisen ausgelöst durch z.B. Verlassen des Elternhauses, Umzug in eine neue Umgebung usw. und traumatische Krisen die durch unvorhergesehene Ereignisse wie Todesfälle, Unfälle oder Trennung usw. ausgelöst werden.
 

1.2  Krisentheorien
 
1.2.1  Theorien zu Krisenverläufen
     
Zu Krisenverläufen im Kindes- und Jugendalter gibt es nur wenige wissenschaftliche Untersuchungen. Im Punkt 1.4 wird auf den speziellen Aspekt der Adoleszenzkrise eingegangen. Eric Lindemann (1944) beschrieb den phasischen Verlauf der Reaktionen seiner Patienten bei Krisen und stellte somit das erste Stufenmodell zum Verlauf von Krisen auf. Caplan, betonte die sozialpsychiatrisch-präventiven Gesichtspunkte von Krisen. Caplan und Cullberg (1978) definierten eine Krise als "den Verlust des seelischen Gleichgewichts, den ein Mensch verspürt, wenn er mit Ereignissen und Lebensumständen konfrontiert wird, die er im Augenblick nicht bewältigen kann, weil sie von der Art und dem Ausmaß her seine durch frühere Erfahrungen erworbenen Fähigkeiten und erprobten Hilfsmittel zur Erreichung wichtiger Lebensziele oder zur Bewältigung seiner Lebenssituation überfordern." 11)   
Sie stellten paradigmatische Krisenverläufe auf, wobei Caplan (1964) sich auf Veränderungskrisen spezialisierte (z.B. Verlassen des Elternhauses, Heirat, etc.) und Cullberg auf traumatische Krisen.

Abbildung 1 und Abbildung 2 stellen diese Krisenverläufe schematisch dar. 12)  
 
1. Phase:  Konfrontation mit dem Ereignis.
2. Phase:  Lösung misslingt - Gefühl des Versagens entsteht.
3. Phase:  Mobilisierung aller Bewältigungsstrategien führt zu
a)  Lösung, Bewältigung oder
b) Rückzug mit Resignation - Chronifizierungsgefahr !
4. Phase:  Vollbild der Krise mit innerer "Lähmung" oder überschiessenden Aktivitäten. Zuletzt Neuanpassung mittels konstruktiver oder destruktivber Strategien.
Abbildung 1: Verlauf von Veränderungskrisen nach Caplan
 

 
1. Phase  (Schockphase):  Zustand der Betäubung oder überschiessender Aktivitäten
2. Phase (Reaktionsphase):  Konfrontation mit der Realität und Versuch, sie zu integrieren.
Fixierungsgefahr: wenn innerpsychische Konflikte aktiviert werden..
Chronifizierungsgefahr: Bei sozialer Isolation oder mangelnden Hilfsangeboten
3. Phase (Bearbeitungsphase):  Lösung von Trauma und Vergangenheit.
4. Phase (Neuorientierung):  Selbstwertgefühl wiedergewonnen, neue Beziehungen hergestellt.
Abbildung 2: Verlauf der traumatischen Krisen nach Cullberg


1.2.2  Theorien zur Krisenentstehung 
 
Battegay entwickelte
die Krisentheorie weiter und nahm den Coping-Gedanken, der vor allem durch Lazarus entwickelt wurde, auf. Battegay spricht dann von einer Krise, wenn "ein Individuum in der Auseinandersetzung zwischen Bedürfnissen einerseits und Realitätsanforderungen andererseits nicht mehr in der Lage ist, Abwehr und/oder Copingmechanismen einzusetzen, die ihm wieder Ruhe verschaffen könnten."
Seligman 1971 mit seiner Theorie der Hilflosigkeit ("Helplessness-Theory") vertrat die These, dass Menschen auf nicht kontrollierbare Situationen früher oder später mit Hilflosigkeit oder Resignation reagieren. Lazarus entwickelte 1978 das transaktionale Modell des Coping- Prozesses. Er legte Wert auf die zwei Ebenen in denen sich der Prozess vollzieht
  1. Das "primary appraisal", das die kognitive Einschätzung der bestehenden oder zu erwartenden Krise meint.
  2. Das "secondary appraisal", worunter Lazarus die Einschätzung der Ressourcen also die individuellen Copingmöglichkeiten, vor allem im Hinblick auf die emotionale Stablisierung versteht.
     
1.3  Krisenbewältigung
 
Bewältigung wird im Sinne von „Bemühungen kognitiver und handlungsorientierter Art, die unternommen werden, um Anforderungen zu meistern, zu tolerieren oder zu vermindern, welche die Mittel einer Person auf eine harte Probe stellen bzw. überfordern" 14)  definiert. Die betroffene Person ist in der Variabilität der Bewältigungsformen nicht frei in der Wahlmöglichkeit, da die Bewältigung von den individuellen Möglichkeiten abhängt und durch Umstände wie z.B. Verletzlichkeit, Ausmaß der subjektiv erlittenen Schädigung, Ausmaß der Veränderung und oder auch in Frage stehende Grundbedürfnisse geprägt ist. Bewältigungsformen können Muster von Aktivität, Passivität, Optimismus, Rigidität, Flexibilität, Realität, Verleugnungs- und Vermeidungsverhalten haben. Als Bewältigung oder Coping (siehe Abb. 3) wird das Bemühen bezeichnet, durch zielgerichtetes Handeln eine Krise zu verarbeiten, auszugleichen, zu meistern. Zielgerichtet heißt hier Überwindung der Krise oder bestmögliche Anpassung. Dabei stützt sich Coping auf wesentliche Ressourcen, einerseits innerpsychisch auf die Persönlichkeitsstruktur und andererseits auf das Umfeld (soziale Unterstützung). Selbst wenn Coping die Krise nicht überwindet, kann Coping dazu beitragen, die Persönlichkeit als künftige Ressource zu stärken. 15)  
 
1.4  Zum Verständnis der Adoleszenzkrise
 
Der Begriff Adoleszenzkrise taucht als Diagnose nicht auf. Er ist  laut Remschmidt (1992) höchstens als Querschnittsdiagnose zu verstehen, die nichts über eine Krankheit und auch nichts über einen möglichen Verlauf auszusagen vermag.

Von seiner Aussagekraft her bezieht er sich auf zwei Aspekte:
  1. Der Begriff dient der zeitlichen Beschreibung, nämlich einer Krise, die sich in der Zeit der Adoleszenz abspielt.
  2. Er beschreibt die Ursache einer Krise, wenn ein Kind bzw. Jugendlicher durch die psychischen oder physischen Vorgänge der Adoleszenz in eine Krise gelangt. Die Fähigkeiten der Krisenbewältigung entwickeln sich im Laufe des Lebens und sind für den einzelnen Menschen situationsbezogen relativ spezifisch .
Im Bereich der Entwicklungspsychologie gibt es einige Untersuchungen zum Thema Krisenbewältigung bei Kindern und Jugendlichen. Lohaus 16)  zeigte in einer Studie, dass jüngere Kinder andere Bewältigungskapazitäten und -strategien haben als Jugendliche. Das bedeutet, dass die Jugendzeit, die ja schon eine Lebensphase mit einem hohen Anforderungsprofil darstellt, Jugendlichen zusätzlich die Ausbildung neuer, angemessener Strategien zur Krisenbewältigung abverlangt. Einige Untersuchungen machen deutlich, dass das Bindungskonzept nach Bowlby (1969) eine wesentliche Rolle für das Verständnis von Copingstrategien spielt. Durch ihre Beobachtungen des Verhaltens von einjährigen Kindern in verschiedenen Episoden, in denen sie mit der Mutter oder mit einer ihnen fremden weiblichen Person interagieren, bzw. in denen sie von der Mutter getrennt sind ("Fremde-Situations-Test"), konnte sie verschiedene Bindungstypen unterscheiden:
  • Sichere Bindung an die Mutter bzw. Bezugsperson
  • Unsicher-vermeidende Bindung
  • Unsicher-ambivalente Bindung
Kinder, im Alter von fünf Jahren auf ihre Problemlösefähigkeiten in Abhängigkeit von ihren Bindungsrepräsentanzen untersucht, ließen erkennen, dass die sicher gebundenen Kinder geringere Verhaltensprobleme und bessere Problemlösefähigkeiten aufwiesen als die unsicher gebundenen. Cohn (1990) stellte bei Erhebungen an unsicher gebundenen Jungen im Alter von sechs Jahren eine geringere soziale Beliebtheit und eine von Altersgenossen wahrgenommene höhere Aggressionsbereitschaft fest. Das Bindungs-konzept liefert damit wichtige Erkenntnisse zum Verständnis des Copingverhaltens von Jugendlichen und kann ein Mosaiksteinchen für die Suche nach Ursachen von Adoleszenzkrisen sein. Seiffge-Krenke (1994) hat aufgezeigt, dass das Ausmaß der Problembelastung und die Wahl der Bewältigungsstrategien eng zusammenhängen.

 
1.5  Ausgewählte Ursachen und Einflussfaktoren

Im Folgenden werden einige Einflussfaktoren näher betrachtet, die einen Zugang zu Krisenthematik ermöglichen und helfen sollen, Kinder/Jugendliche und ihre Bezugspersonen (Eltern, Erzieher...) in ihren Handlungen und Reaktionen zu verstehen und sie z.B. nicht zu verurteilen. Es ist notwendig an dieser Stelle zu erwähnen, dass die folgenden Faktoren immer im gegenseitigen Zusammenhang stehen und nur der Übersichtlichkeit wegen getrennt beschreiben werden.
 
Gesellschaftliche Faktoren
Neben biographischen und familiären Faktoren spielen bei der Entstehung von Krisen gesellschaftliche und soziostrukturelle Faktoren eine zentrale Rolle. Ausgehend von der These, dass unterschiedliche Gruppen von Menschen unterschiedliche Probleme lösen und bewältigen müssen und sie dazu Ressourcen benötigen, über die sie verfügen  oder nicht, werden im Folgenden gesellschaftliche Faktoren, die diese ungleiche Verteilung von Risiken und Chancen begünstigen oder auch verstärken können, näher beschrieben.
Es dient der Erklärung, warum bestimmte Menschen scheinbar anfälliger für Krisensituationen sind. Warum sich bei ihnen Krisen, die viele zu bewältigen haben, besonders intensiv auswirken. Die Gesellschaft ist gekennzeichnet von einer Vielzahl  benachteiligter, individueller Lebenslagen. Es gibt Menschen, bei denen mehrere Benachteiligungsursachen und Belastungsmomente zusammenfallen, die sie bewältigen müssen. Hier greifen mehrere Benachteiligungen und damit Probleme ineinander, die die Familie zu lösen hat (z.B. viele Kinder, beengte Wohnverhältnisse, Arbeitslosigkeit etc.) Diese Benachteiligung können Krisensituationen begünstigen oder wahrscheinlicher machen. Seit einigen Jahren vollzieht sich ein Wandel, der als Individualisierung, Enttraditionalisierung und Pluralisierung von Lebenslagen und Biographiemustern bekannt ist.
U. Beck spricht in seiner Beschreibung der Risikogesellschaft von drei Momenten des Individualisierungsprozesses. Er sieht in der Individualisierung nicht mehr nur eine Veränderung vom Bewusstsein des Einzelnen, sondern eine neue Form der Vergesellschaftung, einen Wandel im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft.
In der "Freisetzungsdimension" - geht es um die "Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne traditioneller Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge". 17)  Gemeint ist der Wandel von Familienstrukturen, hinzu einer Tendenz von langfristigen zu immer kurzfristigeren Beziehungen. Es ist erkennbar, dass die Zahl der Kinder zunimmt, die nicht bei beiden Elternteilen aufwächst. Es gibt weniger gemeinsame Berührungspunkte zwischen den Menschen und es ist eine Auflösung großer sozialer Milieus, zugunsten kleiner sozialer Milieus sichtbar. Es kommt zum Zerfall von Sozialformen und -strukturen, d.h. es kommt auf der einen Seite zum Verlust von Traditionen und auf der anderen Seite gibt es für den Einzelnen mehr Freiheit, den eigenen Lebensstil ohne Strukturen zu leben und zu gestalten.  In der zweiten Dimension, der "Entzauberungsdimension" geschieht ein "Verlust von traditionellen Sicherheiten in Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen". 18)    Auffallend ist ein anderer Umgang mit Beziehungen. So werden z.B. die Erziehungsanforderungen an Kinder immer differenzierter. Dieses führt zu größeren Unsicherheiten bei den Eltern und begünstigt einen größeren Bedarf an Ratgebern (Bücher, Erziehungsberatungsstellen).
Die dritte Dimension - "Kontroll- und Reintegrationsdimension" - führt zu einer "neuen Art der sozialen Einbindung" 19)  d.h. es entsteht eine Fülle von neuen Zwängen bei aller individueller Freiheit. Die Familie als Einheit generations- und geschlechtsübergreifender Lebenslagen und -verläufe zerbricht und die Individuen werden eigenverantwortlich für ihre Existenzsicherung und Biographieplanung und Organisation. Es erfolgt zunehmend ein Übergreifen der privaten in die öffentlichen Bereiche. Es entsteht eine Abhängigkeit der Individuen von Institutionen, d.h. sie werden bzw. sind arbeitsmarktabhängig und damit bildungsabhängig, konsumabhängig. Dieses führt zu einer Institutionalisierung von Biographiemustern. Es entwickeln sich Konflikt- und Problemlagen, die sich gegen jede individuelle Bearbeitung sperren. Die familiären Lebenslaufmuster werden ersetzt durch institutionelle Lebenslaufmuster. (z.B. Beginn/ Ende des Bildungssystems, Arbeitssystems). Von Wichtigkeit für das Verstehen von Krisen ist, dass mit der beschriebenen Abhängigkeit von Institutionen auch die Krisenanfälligkeit des Einzelnen erheblich wächst. So wird z.B. das Bereitstellen oder Vorenthalten eines Ausbildungsplatzes zur Frage des Einstiegs oder Ausstiegs in die oder aus der Gesellschaft. Für den Einzelnen bedeutet das, dass Entscheidungen z.B. über Partner, Kinder, Ausbildung, Beruf, Wohnort nicht nur getroffen werden können, sondern getroffen werden müssen. Dieses erfordert aber ein "aktives Handlungsmodell des Alltags" 20)  denn die beeinflussenden institutionellen Lagen sind nicht mehr nur Ereignisse, sondern auch Konsequenzen der selbst getroffenen oder nicht getroffenen Entscheidungen. Damit entstehen qualitativ neue Formen von persönlichen Risiken in einer individualisierten Gesellschaft. So entwickelt sich ein Zwang zur Selbstverarbeitung, -planung und -herstellung des eigenen Lebens. Damit ist eine neue Form von Schuldzuweisung verbunden. Es gibt Ereignisse, die von dem Einzelnen selbst und von seiner Umwelt als persönliches Versagen erlebt werden, wie z.B. Arbeitslosigkeit, Scheidung, Versagen bei der Erziehung der Kinder. Für Kinder und Jugendliche heißt dieses, dass sie sich ihren Lebensplan, ihren Lebensweg selbst suchen müssen. Sie müssen sich ausweisen, sich legitimieren in dem, was sie als eigene Lebensmöglichkeit wählen. Auf Krisen bezogen, bedeutet das, dass sie zum einen sehr viel häufiger entstehen, zum anderem sich auch sehr viel nachhaltiger auf das Leben des Einzelnen auswirken.

Biographische Faktoren
Will man Krisen von Kindern/Jugendlichen und ihren Bezugspersonen verstehen, muss man ihre Lebenserfahrungen rekonstruieren und ihren biographischen Hintergrund kennen. Ausgehend von dem Konzept der Lebensweltorientierung, dass von den Lebensumständen und -erfahrungen geprägt ist, erscheint es möglich, Krisen und damit zusammenhängende Handlungen aus der Rekonstruktion von Biographie- und Lebenserfahrungen als entsprechende Reaktion zu verstehen. Dieses macht die Bedeutung früher Erfahrungen von Kindern für ihr späteres Verhalten und Handeln sichtbar. In der Sozialisation bauen Kinder individuelle Handlungskompetenzen in einen Prozess der aktiven Auseinandersetzung mit der sozialen und dinglichen Umwelt auf. Aus pädagogischer Sicht ist Sozialisation die Anpassung neuer  an bisher gemachte Erfahrungen oder die Angleichung der Umwelt an diese. Sozialisationsziele sind unter anderem aus Sicht der Gesellschaft, Normen und Werte sowie aus Sicht des Individuums, Perspektiven, Möglichkeiten und Begrenzungen zu vermitteln, die dem Einzelnen von der Gesellschaft angeboten werden. Die Theorie der Sozialisation geht davon aus, dass der Säugling zunächst Gleichgewichtszustände erlebt, die er immer wieder versucht, herzustellen. Er unternimmt Aktivitäten, z.B. Weinen, um eine Regulierung seiner Bedürfnisse wie Hunger, Beachtung oder Zuwendung zu erreichen. Damit ist das Kleinstkind unmittelbar auf seine Umwelt, auf seine primäre Bezugsperson , z.B. auf die Mutter, angewiesen und von ihr abhängig. Erfahrungen, die das Kind macht, sind sozial beeinflusst, d.h. auch abhängig von den Bedürfnissen, dem Auftreten und Handeln der Erwachsenen. In der weiteren Entwicklung lernt das Kind, dass es die Herstellung des Gleichgewichtszustandes – die Befriedigung seiner Bedürfnisse - beeinflussen kann und richtet seine Handlungen auf dieses Ziel aus. Werden diese Bedürfnisse nicht erfüllt, gerät das Kind in eine Krise, die existenzieller wird, je kleiner das Kind ist. Es erlebt tiefe Unsicherheit und Angst. Durch das Verhalten der primären Bezugsperson und anderer Einflussfaktoren entstehen Bedingungen. Daraus, erlernt das Kind bestimmte Wege zur Bedürfnisbefriedigung, die erfolgsversprechender erscheinen als andere. In der weiteren Entwicklung verdichten sich Strategien, die als erfolgreich erlebt werden, zu Grundstrategien. Das Kind entwickelt Verhaltensweisen und Strategien die sich zu Lebenserfahrungen und eine bestimmte Sicht auf die Wirklichkeit vervollkommnen. Innerhalb seines sozialen Umfeldes entwickeln sich moralische Bewertungen, Strukturen und Motivation so, dass es möglich wird, Bedürfnisse befriedigend erfüllt zu bekommen. Die Grundstrategien die in der Primärsozialisation erworben werden, werden in der Regel beibehalten. Sie sichern Bedürfnisbefriedigung und ordnen Wahrnehmung. 
 
Familiäre Faktoren

Familie wird hier nicht nur im herkömmlichen Sinne verstanden. Familie hat verschiedene Lebensfelder, die zwischen familiärer Innenperspektive z.B. Familienerziehung, Partnerschaft, materielle Bedingungen der Familie und familiärer Außenperspektive z.B. Freizeit, Freunde, Verwandte, Großfamilie, Schule, Beruf, materielle Bedingungen der Lebensfelder, unterschieden werden. Das Familiensystem ist in vielfältiger Weise mit seinem Umfeld verknüpft, jedes Mitglied ist in inner- und außerfamiliären Beziehungen doppelt sozial eingebunden. Die Lebenswelt der Familie stellt sich auch im Interaktionsprozess ihrer Mitglieder dar. Sie bringen ihre Erfahrungen und ihre Biographie mit ein. Dieses hat zur Folge, dass es eine Differenz zwischen individueller und familiärer Lebenswelt geben kann. Der Einzelne ist dabei nicht nur Rollenträger von inner- und außerfamiliären Prozessen, sondern setzt sich mit seinen biographisch-lebensgeschichtlichen erworbenen Deutungs- und Handlungsmustern  mit der inner- und außerfamiliären Umwelt auseinander. So können Probleme und Krisen als Ergebnis des Wechselverhältnisses zwischen inner- und außerfamiliären Funktions- und Lebensbereichen gesehen werden. Krisen und Krisensituationen treten verstärkt dann auf, wenn Ziele, Erwartungen und Kompetenzen des Einzelnen und/oder der Familie nicht den Anforderungen und Möglichkeiten der Umwelt entsprechen. Diese Konflikte oder auch Bruchstellen zwischen Individuum und einzelnen Lebensbereichen erscheinen so z.B. als bedrohliche Anforderungen, enttäuschte Erwartungen oder negative Sanktionen. Dabei können Spannungen, Konflikte und Bruchstellen, sich zu handfesten Krisen ausweiten. Die inner- und außerfamiliären Funktionsbereiche stellen gleichzeitig auch die Gesamtheit des Familienbelastungspotentials dar. Wenn man Krisen und Krisenäußerungen auf familiären Hintergrund verstehen, wenn man die Lebenswelt der Familien begreifen will, ist es notwendig, zum einen die (objektiven) Belastungen der Familien zu rekonstruieren und zum anderen eine Rekonstruktion der subjektiven Problem- oder Krisendefinitionsprozesse der Familie zu leisten. Erforderlich ist es, abzuklären wie die einzelnen Mitglieder die Konflikte sehen, wie sie diese deuten und wie sie mit ihnen umgehen. Bedeutsam ist dieses im Hinblick auf Krisenintervention. Von ausgebildeten Fachkräften wird verlangt, sich auf das angesprochene Problem zu konzentrieren. Es ist oftmals nur das Symptom, hinter dem sich Konflikte, Schwierigkeiten und Krisen verbergen. Symptom-Beseitigung greift zu kurz. Sie schafft möglicherweise neue Konflikte oder trägt zur Aufrechterhaltung der Krise bei. 
 
 
1.6  Ausgewählte Reaktionsmuster auf Krisen
Wie Kinder und Jugendliche, ihre Familien und Bezugspersonen auf Krisen reagieren und damit umgehen, ist ebenso vielfältig und gleichzeitig bedingt in ihrer individuellen Lebensgeschichte, der verfügbaren Bewältigungs- und Handlungsstrategien sowie den persönlichen und materiellen Ressourcen. Vernachlässigung, Flucht von Kindern und Jugendlichen sowie Gewalt, sowohl der Eltern als auch der Kinder/Jugendlichen sind einige Reaktionsmuster, die folgend kurz verständlich gemacht werden sollen.
 
Vernachlässigung
Schone/Jordan definieren Vernachlässigung als "andauernde oder wiederholte Unterlassung fürsorglichen Handelns sorgeverantwortlicher Personen (Eltern oder andere von ihnen autorisierte Betreuungspersonen), welches zur Sicherstellung der physischen und psychischen Versorgung des Kindes notwendig wäre." 21)  Die Unterlassung fürsorglichen Handelns kann aktiv oder passiv (unbewusst) aufgrund unzureichender Einsicht oder unzureichenden Wissens erfolgen. Vernachlässigung zeigt sich in einer chronischen Unterversorgung des Kindes, die durch nachhaltige Nichtberücksichtigung, Missachtung oder Versagung seiner Lebensbedürfnisse geschieht. Dadurch wird die körperliche, geistige und seelische Entwicklung des Kindes gehemmt, beeinträchtigt oder geschädigt. Kinder, die besonders auf Förderung, Fürsorge und Schutz angewiesen sind (geringes Alter, Beeinträchtigungen etc.), sind vorrangig von Vernachlässigung betroffen. Ihnen fehlt häufig die Möglichkeit, einerseits ihre Mangelsituation öffentlich auszudrücken und anderseits ihre Vernachlässigungssituationen aus eigenen Ressourcen zu kompensieren. Vernachlässigung weist auf die Unfähigkeit oder fehlende Bereitschaft der Eltern/Bezugspersonen hin, kindliche Lebensbedürfnisse wahrzunehmen und zu befriedigen. Vernachlässigung wird so als Beziehungsstörung zwischen Eltern / Bezugspersonen und Kindern definiert. 
Es wird  zwischen körperlicher und seelischer Vernachlässigung unterschieden. Zur körperlichen Vernachlässigung zählen unter anderem die unzureichende Versorgung mit Nahrung, unterlassene oder unzureichende hygienische Versorgung und Pflege, das Frierenlassen oder Unterkühlen, das Vorenthalten medizinischer Versorgung von Kindern, etc.
Von seelischer Vernachlässigung wird gesprochen, wenn das Kind ignoriert, übergangen, links liegengelassen, nicht beachtet wird, etc. Dazu zählen sicherlich auch mangelnde Gesprächsbereitschaft seitens der Erwachsenen, Zeitmangel, geringe Neigung oder Fähigkeit, sich auf die Gefühls- und Erlebniswelt der Kinder einzulassen und die Ignoranz gegenüber kindlichen Bedürfnissen, z.B. Zuwendung, Geborgenheit (siehe auch Biographische Faktoren). Vernachlässigung ist oft eng verbunden mit Armut. Dazu kommt häufig eine Isolierung der Familie und ein Mangel an Kontakten zu außenstehenden Hilfesystemen. Sie erhält aus ihrem sozialen Umfeld wenig oder keine Hilfe, Rat, Anerkennung und Zuwendung. Die Familien verfügen in der Regel auch nicht über die Fähigkeit, sich im Krisenfall (effektive) Hilfe zu holen. Von ihren Kindern erwarten die Eltern häufig, dass diese sie im Sinne einer Umkehrung  versorgen und lieben sollen. Je mehr das Kind sich aber seinerseits als schutzbedürftig, abhängig, eigenwillig, Forderungen stellend, Versorgung und Zuwendung benötigend erweist, desto mehr sehen die Eltern ihre Illusionen gefährdet. Sie werden frustriert, gleichgültig, fliehen in Alkohol oder Drogen oder lassen ihre Enttäuschung und Aggression an den verunsicherten Kindern aus. Den Alltag durchziehen nicht selten widersprüchliche Regeln und unzureichende Erklärungen. Es gibt keine eindeutigen Abmachungen. Die Familienmitglieder verstehen häufig selbst nicht, was geschieht. Es fehlt an lebenspraktischer Kompetenz. Und die Abwehrhaltung, sie zu erwerben, ist nicht selten als Schutz entwickelt, könnten sie doch z.B. daran scheitern. 22)  Oft sind es viele Belastungsmomente, die für die Familien auf einmal auftreten. Armut verstärkt die Verletzbarkeit der Familie, verringert die soziale Stabilität und schwächt die Ressourcen. Wenn zur Armut noch weitere Belastungen, wie z.B. Trennung hinzukommen, wächst die Ratlosigkeit und Hilflosigkeit, aber auch die Wut, Aggression und Überforderung. Die Eltern/Bezugspersonen können in der Folge ihrer Erzieherrolle nicht gerecht werden. Sie geben die Verantwortung für ihre Kinder ab, werden aggressiv, unsensibel für die Wünsche, Bedürfnisse und Ängste ihrer Kinder, treffen kaum noch Entscheidungen. Sie sind zunehmend weniger in der Lage, das eigene Leben und das ihrer Kinder zu organisieren, zu kontrollieren und zu strukturieren. Bei den Kindern ist der Aufbau altersgemäßer Persönlichkeitsstrukturen gefährdet - sie sind beziehungsängstlich, d.h. misstrauisch, zurückgezogen oder distanzlos, machen also keine Unterschiede zwischen vertrauten und fremden Personen. 23)  Die Kinder in diesen Familien erleben, dass ihre Grundbedürfnisse nur sporadisch erfüllt werden und sie selber keine Möglichkeit haben, an dieser Situation etwas zu ändern. Ein geringer emotionaler Kontakt zu den primären Bezugspersonen macht es den Kindern schwer, eine stabile Ich-Struktur aufzubauen. Sie sind den Geschehnissen passiv ausgeliefert. Stabile Ressourcen, um Krisen zu bewältigen sind kaum entwickelt, oder ausreichend vorhanden. 
 

Gewalt
Gewaltanwendungen in der Familie gibt es seit langer Zeit. So waren körperliche, seelische
und sexuelle Gewalt schon immer Bestandteile elterlicher Erziehungskonzepte. Erziehung, Disziplinierung und Gewalt sind nach wie vor eng miteinander verbunden. Unter Gewalt sind sowohl individuelle, als auch soziale Aspekte zu verstehen, d.h. gewalttätiges Verhalten und gewaltförmige Verhältnisse. Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ist die Ausnutzung von Abhängigkeit, die Auslieferung an Zwänge, die Erfahrung von Zwang. Ihr folgt eine subjektiv erlebte Ohnmacht in einer sozialen Situation, ohne die Chance oder das Recht zu Rechtfertigung, Gegenwehr. Eine angemessene, gewaltarme Handlungsalternative erscheint nicht möglich.

Zur Lebenssituation und Erfahrungswelt von Kindern und Jugendlichen gehören mitunter auch die teilweise rücksichtslose Ausnutzung körperlicher Stärke und psychischer Überlegenheit Erwachsener, z.B. in der Erziehung, der Verhaltensänderung, dem Funktionieren im Alltag. Neben der körperlichen Gewalt, die von Schlägen auch zu schwersten körperlichen Verletzungen führen kann, gibt es einen weiteren, oft vernachlässigten, nicht so offensichtlichen Bereich, die psychische Gewalt. Zur psychischen Gewalt zählen unter anderem Isolieren, Ablehnen, Ignorieren von Kindern und Jugendlichen. Emotionale Distanz zwischen den Eltern und/oder Bezugspersonen ist häufig mit einer emotionalen Distanz zu den Kindern verbunden. Es handelt sich hier um eine passive Gewaltbeziehung der Eltern zu den Kindern. Die Beziehungsatmosphäre ist leise, unaufdringlich, passiv und desinteressiert. Es erfolgt keine aktive Ablehnung. Es ist u.a. wie eine in Watte gepackte Isolation von allem, was Zuhören, Erfahrenwollen, Interessiertsein heißt. Die Kinder werden häufig in "liebevoller" Weise völlig übersehen. Abgelehnt zu werden ist für Kinder wie eine emotionale Peitsche, die sie fortwährend trifft. Sie kann von der aktiven, aggressiven Form der Ablehnung bis zur passiven Gewalt des Ignorierens reichen. Die Ablehnung äußert sich oft in Verhaltensweisen, wie wegschicken, kaum noch zuhören, weinen lassen, nicht trösten, nicht mehr körperlich berühren und Liebesentzug. Die Kinder fühlen sich abgelehnt, ungeliebt, wertlos, wissen nicht warum und entwickeln dementsprechend ihr Selbstbild. 
Kinder und Jugendliche sind zudem weiteren vielfältigen Gewaltsituationen und -formen ausgesetzt, so z.B. Gewalt durch oder in der Schule, in der Freizeit, durch und in den Medien - kurz, Gewalt durchzieht alle ihre Lebensbereiche. Mitunter reagieren sie auf die erlebte, vorgelebte Gewalt wieder mit Gewalt oder mit kriminellem Verhalten. Dabei gehen den Gewalttätigkeiten von Kindern und Jugendlichen oft Aggressionen voraus, die ihre Ursache in Frustrationen, d.h. in tiefen Verletzungen, Demütigungen, Enttäuschungen und Entbehrungen, Wut, Hass und Ärger haben können. Jedes Versagen, jede Enttäuschung, Kränkung, Vernachlässigung, die nicht verarbeitet werden konnte, kann nach der Frustrations-Aggressions-Hypothese zu einer erhöhten Aggressionsbereitschaft führen, die sich dann in Form von Gewalt gegen Personen, Sachen oder den eigenen Körper richten kann. 24) Hier sind autoaggressive Tendenzen von Kindern und Jugendlichen, d.h. also gegen sich selbst gerichtete Gewalt als Krisenäußerung zu verstehen. Alkohol- und Drogenkonsum, Essstörungen, psychosomatische Erkrankungen, Suizidversuche bis hin zum Selbstmord, aber auch S-Bahn-Surfen sind nur einige extreme Beispiele dafür. Das zunehmende Gewaltpotential unter den Kindern und Jugendlichen sind Krisenäußerungen oder aber Reaktionen auf Krisen in der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen. Sozial benachteiligte Kinder und Jugendlichen sind zunehmend durch unangemessene Konfliktlösungsfähigkeit, soziale Unverbindlichkeit und soziale Isolierung gekennzeichnet. Kinder und Jugendliche, die in ihren Bezugssystemen keine Anerkennung, Liebe und Nähe kennen, können mit unerwarteter Nähe nicht umgehen. Sie haben oft erfahren, dass andere ihnen nicht trauen und sie vertrauen in der Folge dann lieber auf die ihnen bekannte Unverbindlichkeit und Gewalttätigkeit. 25)   
 
Flucht
Eine weitere Form der Krisenäußerung ist die Flucht, das Weglaufen aus für sie unerträglich gewordenen Lebenssituationen. Sie laufen weg aus ihren familiären Bezugssystemen, aus dem Heim oder sonstigen Institutionen. Diese Kinder schildern ihre Kindheit als wenig bergend, als bedrohlich. Instabile Familienverhältnisse, häufiger Wechsel von Bezugspersonen, wiederkehrende Heimeinweisungen, Heimwechsel und überforderte Eltern und Erzieher sind einige Punkte ihrer Biographie. Sie haben kaum Sicherheit, Geborgenheit, Nähe, Stabilität in Beziehungen erleben können, was ihnen teilweise unmöglich macht, anderen zu vertrauen, sich auf Beziehungen einzulassen. Nach dem Prinzip, keine Einlassung, keine Enttäuschung.
Für die Kinder und Jugendlichen, die aus ihren Herkunfts- oder Pflegefamilien weglaufen, sind Konflikte im Zusammenleben mit ihren Bezugspersonen, mit und in der Schule vorrangig. Dahinter stehen häufig Angst vor Bestrafungen, unangemessenem Erziehungsverhalten, Angst vor schulischem Versagen und der erwarteten ablehnenden Reaktion anderer, die es gilt zu vermeiden. Aber auch fehlendes Verständnis seitens der Bezugspersonen, zu wenig Zeit, wenig oder kein Interesse, zu starke Reglementierungen, das Gefühl der Überflüssigkeit können zur Flucht führen.
Bei Kindern und Jugendlichen, die aus Einrichtungen der Jugendhilfe fliehen, kommen neben Konflikten, die sich aus dem Zusammenleben mit den ErzieherInnen im Alltag ergeben, Probleme, u.a. aus struktureller Beziehungslosigkeit, Austauschbarkeit der Erzieher, rigiden Regeln, wenig Rückzugsraum, hinzu. Es sind häufig aktuelle Anlässe, Wünsche und Enttäuschungen, die Kinder und Jugendlichen zur Flucht bewegen. Das Weglaufen  kann unterschiedliche Bedeutungen und Hintergründe haben. Das Weglaufen kann z.B. als Signal gelten, als eine Handlungsauforderung nach mehr Beachtung,
Aufmerksamkeit und emotionaler Zuwendung oder der Wunsch und die Hoffnung auf eine weiterhin bestehende Bindung zum Herkunftssystem. Daneben kann das Weglaufen - als Signal verstanden - auch demonstrativen Charakter haben. Es soll Anstoß zum Nachdenken, zum Verändern von Einstellungen geben.
Die Flucht von Kindern und Jugendlichen kann die Funktion einer Spannungsreduktion haben. Wenn andere Handlungsstrategien und Bewältigungsmöglichkeiten nicht zur Verfügung stehen oder den Kindern und Jugendlichen Ansätze der Veränderung, Spannungs- oder Konfliktverarbeitung innerhalb ihres Bezugsrahmens unmöglich erscheinen, kann das Weglaufen ein Problemlösungsversuch sein, sich der unerträglichen Situation, die Druck, Angst und Spannung auslöst, zu entziehen. Die Beziehung, bzw. Bindung zu den Bezugspersonen ist häufig schon so instabil, die Hoffnung auf eine Konfliktlösung schon zu oft enttäuscht worden, dass Weglaufen als einzig Alternative, als einziger Ausweg erscheint. Weglaufen kann auch die Vorwegnahme direkter Ausstoßung sein. Es geschieht in diesen Fällen der Bruch der Beziehung zwischen Bezugspersonen und den Kindern nicht direkt, d.h. die Kinder und Jugendlichen werden nicht rausgeschmissen. Vielmehr kommt es in der Folge dauernder Konflikt- und Krisensituationen dazu, dass die Kinder und Jugendlichen den Bruch initiieren und so dem Rausschmiss zuvorkommen. Hier ist der Druck so stark, dass sie sich nur noch mit Flucht zu helfen wissen. Mitunter ist Flucht Ausdruck nicht mehr ausgehaltener Ambivalenz zwischen den Bezugspersonen und ihnen. Sie spüren die Ablehnung, das Desinteresse einerseits, andererseits sind Reste an Bindung vorhanden, was zu Irritationen führt, sie wissen nicht, woran sie sind. 26)  Es ist wichtig, das Weglaufen von Kindern und Jugendlichen als Krisenäußerung, als Signal zu verstehen und nicht als Verstoß oder abweichendes Verhalten gegen gesellschaftliche Normen und Werte. Häufig werden zudem die nicht im Alltag belebten Beziehungen idealisiert und verkörpern Wünsche und Vorstellungen, die wenig Bezug zur Realität haben. Dann führt die Flucht zu intensiv erlebten Enttäuschungen, die häufig als deja vù erlebt werden. So beginnt in einigen Fällen der Kreis mit Beziehungsabbrüchen dann wieder von neuem. 
 
1.7  Krisenintervention
 
So schwer der Begriff Krise zu fassen ist, so besteht in der Forschung kein Konsens darüber, wie Krisenintervention sein soll und wie sie von Konzepten (z.B. Notfallpsychiatrie) abzugrenzen ist. Gemeinsamkeiten findet man in der Charakteristika von Kriseninterventionen.
Krisenintervention 27):
  • muss rasch und flexibel erfolgen können
  • konzentriert sich auf die aktuelle Problemlage
  • soll eine zeitliche Begrenzung haben
  • fordert eine aktive und direkte, jedoch nicht unbedingt therapeutische Haltung
  • wird häufig von interdisziplinären Teams geleistet (da keine ärztliche Domäne)
  • beinhaltet auch Maßnahmen im sozialen Umfeld
Sowohl in ambulanter als auch in stationärer Krisenintervention ist es wichtig, durch das Schaffen einer möglichst ruhigen und strukturierten Atmosphäre dem Klienten einen geschützten Rahmen zu bieten. Zum Beispiel durch das Eingehen auf Grundbedürfnisse, wie Hunger und Durst, das Herstellen einer normalen Situation, die den krisenhaften Ausnahmezustand entschärft und die emotionale Spannung nimmt. Dem Klienten ist die Möglichkeit zu geben, einen Platz zu haben, in dem er in seiner Krisensituation ernst genommen wird und gegebenenfalls vor sich oder anderen geschützt wird. Dadurch wird dem Minderjährigen ein konkreter und/oder abstrakter Raum geschaffen, in dem eine intensive Bearbeitung der inneren und äußeren Konflikte möglich wird. Im Umgang mit dem Klientel kommt es dabei vor allem auf Transparenz an. 
Die stationäre Krisenintervention ist gekennzeichnet von einem hohen Personalschlüssel, 24-Stunden Aufnahmebereitschaft, mit meist multidisziplinärem Team sowie ausreichendem Setting.
Inobhutnahmestellen nach § 42 KJHG beinhalten beide Formen der Krisenintervention.
Der Arbeitskreis Inobhutnahme der IGfH entwickelte für Inobhutnahmeeinrichtung eine Präambel für das erforderliche Setting .
Für ambulante und stationäre Krisenintervention gelten demnach folgende Grundsätze:
  • Zeitlich begrenzter Rahmen,
  • Zentrierung auf die Bewältigung der Krise,
  • Aktive Haltung des Beraters erforderlich,
  • Förderung von „gesunden“ und „progressiven“ Bewältigungsstrategien,
  • Entgegenwirken von „regressiven“ Tendenzen,
  • Erfordert oftmals Multidisziplinarität
Ziel der Krisenintervention ist die Auflösung der unmittelbaren Krise und die Wiederherstellung des Funktionsgrades, den der Klient vor der Krise hatte. Im Idealfall gelingt es, eine Steigerung der Funktionalität herbeizuführen. Kriseninter-vention zielt nicht nur auf das Individuum, sondern umfasst Maßnahmen im sozialen Umfeld. Wichtig sind Vertrauen, Einfühlungsvermögen, sowie Zuneigung (psychosoziale Ebene), Rückmeldungen über die Angemessenheit des Verhaltens der Klienten (psychosoziale Ebene), praktische Hilfemaßnahmen (praktische Ebene) und Ratschläge (praktische Ebene).
Die Krisenintervention beinhaltet methodisch folgende Phasen, deren eindeutige Einteilung im Einzellfall nicht immer möglich ist (siehe Anlage ):  
  • Kontakt herstellen / Aufbau einer Beziehung,
  • Problemanalyse  > Situationsanalyse   > Coping – Analyse,
  • Problemdefinition,
  • Zieldefinition,
  • Problembearbeitung  > Coping – Modifikation,
  • Abschluss /Re – Evaluation / Evaluation
Diese Phasen stellen auch eine Grundlage für einen schematischen Ablauf der Krisenintervention dar, der nicht generalisiert werden kann, da jede Krise und Krisenintervention individuell verläuft.
Im Vordergrund der Krisenintervention steht zunächst die Frage nach der Akuität der Krise und den vorhanden Ressourcen des Minderjährigen und seines sozialen Umfeldes (Familie, Wohngruppe oder ähnliches). Die Grundlage für eine realistische Einschätzung der Situation ist der Aufbau einer Beziehung zwischen dem Pädagogen und dem Minderjährigen. Über die Gespräche mit dem Klienten hinaus geht es in der Krisenintervention darum, Veränderungsmöglichkeiten auszuloten, Klärungen zu gestalten und bei Bedarf weitere Hilfsangebote aufzuzeigen und ggf. zu organisieren und koordinieren.
 
1.7.1  Erstkontakt / Aufnahmesituation
 
Der Erstkontakt ist für den Beziehungsaufbau von zentraler Bedeutung. Der Klient muss sich verstanden fühlen und dem Krisenberater vertrauen. Es bedarf einer tragfähigen Beziehung, deshalb sollte das klientenzentrierte Gespräch auch beziehungssetzend und stützend wirken. Um in einer möglicherweise emotional hochgespannter Lage Vorraussetzungen für ein konstruktives Gespräch zu schaffen, muss ein Setting hergestellt werden, das Ruhe und Klarheit bringen kann.
Der Berater klärt u.a. das Setting:
  • Wieviel Zeit steht zur Verfügung?
  • Wer von den Anwesenden nimmt teil?
  • In welchen Raum und in welcher Sitzordnung findet das Gespräch statt?
Dieses trägt bereits viel zur Beruhigung und Entspannung bei. Es kann förderlich sein, wenn der Berater zunächst mit dem Klienten alleine Kontakt aufnimmmt. Im eigentlichen Gespräch sollte die Eingangsfrage nach der emotionalen Ebene, der momentanen subjektiven Befindlichkeit ausgerichtet sein. Das Setting sollte hier nicht nur im Sinne der persönlichen Zuwendung (auf den Klient zugehen, ihn begrüßen, sich vorstellen, erste Schwellenängste abbauen) verstanden werden, sondern auch im Sinne der Rahmenbedingungen (Vorhandensein separater, nicht steriler Beratungsräume, bequeme, barrierefreie Sitzmöglichkeiten die ein Gespräch auf Augenhöhe ermöglichen, Rückzugsmöglichkeiten offenhaltend, getrennt vom Alltagsleben der Einrichtung, Vorhandensein von Entlastungsmöglichkeiten, wie z.B. Spielzeug oder Plüschtiere, ausreichend Zeitressource des Beraters, weitgehendes Ausgrenzen von Störungsfaktoren, wie z.B. Telefon, etc. ). Es gilt eine Atmosphäre zu schaffen, die Zugang zu seinen Emotionen ermöglicht, jedoch gleichzeitig in starkem Maße aufklärend und strukturierend einwirkt. Er sollte die Möglichkeit haben, sich „auszuweinen“ oder seine Enttäuschung, Kränkung, Wut zum Ausdruck zu bringen. Manchmal beginnen Klienten sogleich über Einzelheiten aus aktuellen Lebenssituationen und der Vorgeschichte zu berichten. Es gilt das Bedürfnis zu respektieren und aussprechen zu lassen. Den Kindern und Jugendlichen (in Abhängigkeit ihrer geistigen Entwicklung - Reife) sollte die Möglichkeit gelassen werden, dass sie sich aktiv einbringen dürfen und  können. Der Einsatz von diagnostischen Inventaren für den Klienten ist flexibel und taktvoll zu handhaben und sollte genau begründet werden. Sie können u. U. dazu beitragen, dass der Klient sich ernst genommen fühlt. Die genaue Beobachtung von Mimik und Gestik, richtige Einschätzung der Gefährdung sind wichtig, weil somit abgeschätzt werden kann, wo Ressourcen vorhanden sind und ob diese ausreichend sind. Diese Ausnahmesituation verlangt sehr viel Einfühlungsvermögen, Konzentration, Erfahrung und Gespür, um die Situation des Minderjährigren richtig einzuschätzen und die richtigen Entscheidungen für das weitere Vorgehen zu treffen. Die Beziehung muss komplementär angelegt sein, d.h. sie orientiert sich an den erkennbaren persönlichen Zielen des Klienten.
 
1.7.2  Problemanalyse
 
In der Situationsanalyse geht es darum, Informationen zur Krise zu erhalten und das Ausmaß sowie den Umfang zu erfahren.
Sind z. B. einer oder mehrere Krisenauslöser zu erkennen?
Oftmals sind Stressoren im sozialen Bereich zu erkennen, wie u. a. Beziehungskonflikte, drohende Verluste durch Trennung oder Scheidung der Eltern. Ebenso können z. B. akute Erkrankungen, Schulprobleme, sexueller Missbrauch Auslöser einer Krise sein. Mögliche Belastungen liegen im materiellen Bereich liegen, wie  z. B. ein drohender Verlust der Lehre und damit Einkommen, Schulden, geringe oder unzureichende finanzielle Ressourcen. Der Bereich der Werte und Normen kann als Krisenauslöser fungieren, z.B. Glaubenszweifel, kultureller Wertewandel. Häufig werden diese Punkte erst auf direktes Nachfragen in ihrer Bedeutung als Krisenauslöser erkannt. Petzold (1984) beschreibt im Identitätskonzept die “5 – Säulen der Identität“. Darin benennt er fünf Bereiche, durch die Identität sich konstruiert und gestützt wird:
  • Bereich der Leiblichkeit,
  • das soziale Netzwerk,
  • der Bereich der Arbeit und Leistung (Schule),
  • der materiellen Sicherheit und
  • den Bereich der Werte 28)  
Der Krisenberater benötigt ein umfassendes Bild der aktuellen Situation, und es muss ermittelt werden, welche wichtigen Lebensbereiche, Bedürfnisse, Lebensziele, welche zentralen Schemata durch die Krise in Frage gestellt sind. Der Problemkuchen kann als ein geeignetes Hilfsmittel zur Veranschaulichung der Problemlagen dienen. Die Erstellung erfolgt, indem man den Klienten in einem Kreis die Bereiche als Segmente (z.B. Eigene Verfassung, Beziehungen zum Elternhaus, Freizeit etc.) in seiner empfundenen Größe und Gewichtung darstellen lässt.
   
In der Problemanalyse bedarf es der Erhebung einer kurzen, aber angemessenen Anamnese, um Lebensumfeld, Lebensgeschichte, materielle Lebensgrundlagen zu kennen, da sonst möglicherweise Krisen nicht verstanden werden, bzw. die momentane Krise der „berühmte Tropfen“ ist. Das Coping (Bewältigung) ist das Bemühen, bestehende oder erwartete Belastungen innerpsychisch oder durch zielgerichtetes Handeln aufzufangen und auszugleichen (siehe Punkt 1.3). In der Copinganalyse muss erarbeitet werden, welche persönlichen, institutionellen und soziale Ressourcen zur Verfügung stehen; welche haben bisher geholfen, welche sind bereits eingesetzt worden, welche werden als ungeeignet erachtet, etc. Gleichzeitig erhellt man innere und äußere Ressourcen. Innere Ressourcen sind hier, intellektuelle, praktische Fähigkeiten, körperliche Gesundheit, ethische Werte etc. Als äußere Ressourcen wird der Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen, aber auch Formen materieller und finanzielle Sicherheit etc. betrachtet. Als Hilfsmittel soziale Ressourcen zu erkunden, kann das Erstellen eines Beziehungsnetzes sein. Hier werden von der betroffenen Person ausgehend Pfeile nach dem Motto “Wer tut was für mich?“ und „Für wen tue ich was?“ in unterschiedlicher Stärke oder Stricharten zu anderen Personen oder auch Tieren gezogen (siehe Anlage).  Weitere Hilfsmittel können Fragebögen sein, wie z.B. der zur sozialen Unterstützung (SOZU) 29)  von Sommer und Frydrich (1989) oder in den jeweiligen Einrichtungen entwickelte Anamnesebogen. Ein unterstützendes soziales Netzwerk ist für die Krisenbewältigung enorm bedeutsam und trägt maßgeblich zum Wohlbefinden der Betroffenen bei. 
 
1.7.3  Problemdefinition
 
In weitgehender Zusammenarbeit mit dem Klienten wird die Problemdefinition erarbeitet, d.h. vielfältige Informationen werden zusammengefasst und geordnet. Indem Krisenauslöser, Hintergründe und aktuelle Symptomatik  noch einmal angesprochen werden, wird versucht, die Krise zu erfassen. Die bisherigen Lösungsversuche werden noch einmal erwähnt und entsprechend gewürdigt. Die Benennung der Krise macht die Problematik für Klient und Berater fassbarer und trägt so zur Beruhigung sowie Angstminderung bei. John Dewey (1910) formulierte klassische Schritte des Problemlösungsprozesses: 30)  
  • das Problem wird gespürt,
  • das Problem wird lokalisiert und definiert,
  • mögliche Lösungen werden erwogen,
  • die Konsequenzen werden überdacht,
  • eine Lösungsmethode wird ausgewählt
Diese Schritte der Problemlösung, sowie die Phasen der Krisenintervention greifen ineinander. Die Problemdefinition beinhaltet Schritt 2 wie auch Schritt 3, denn bei der Bewusstmachung der Problematik sollte auch geklärt werden, ob die Krise ambulant (ohne Inobhutnahme) oder stationär ( mit Inobhutnahme) bewältigt werden kann. Die Entscheidung ist maßgeblich von der Akuität der Krise und den persönlichen und sozialen Ressourcen des Betroffenen abhängig. Minderjährige sind oft mit Entscheidungen in der Krise überfordert. Die Zieldefinition mit dem Minderjährigen alternativ zu formulieren ist wichtig, weil bei einer stationären Krisenintervention die Sorgeberechtigten einer Inobhutnahme zustimmen müssen. Ist die Krise so schwerwiegend, ist die Einschaltung des Familiengerichtes erforderlich.
 

1.7.4  Zieldefinition
 
Mit Minderjährigen werden zusammen erreichbare Ziele definiert und möglicherweise realisierbare Zukunftsperspektiven formuliert. Es kann so Klarheit über Vorgehensweisen mit eventuellen Konsequenzen und möglichen Folgeschritten geschaffen werden. So ist es z.B. unerlässlich, gemeinsame Ziele und Unterstützung zu erarbeiten, wenn Elternhäuser nach Information über die Inobhutnahme um ein zeitnahes Gespräch bitten. Bei der Formulierung und Festlegung der Ziele ist es hilfreich, dass der Krisenberater davon überzeugt ist, sie im Rahmen des gewählten Settings auch erreichen zu können. Ergänzend dazu sollten jedoch auch Räume vorhanden sein, die die Suche nicht einschränken, da das Familiensystem häufiger auch Lösungen anbietet, die zunächst illusorisch erscheinen.  Darüber hinaus ist es geboten, hier auch die Mitarbeit und Verantwortlichkeit des ASD, ggf. auch anderer Stellen, als weitere Unterstützung hervorzuheben. Nur so wird möglich sein, Hoffnung zu vermitteln (Cullberg 1978 31) ).
Sollten Minderjährige nach der Zielerarbeitung der Auffassung sein, genügend Ressourcen zu besitzen, um die Notsituationen zu meistern, -  dieses kommt aus der Erfahrung häufiger vor - , ist dieses im professionellen Rahmen zu prüfen und darüber zu informieren, wie und wo im Notfall Hilfe gefunden werden kann.
 
1.7.5  Problembearbeitung
 

Die bisher aufgeführten Schritte der Krisenintervention ( siehe auch Anlage 4) werden im Erstgespräch behandelt. Die Problembearbeitung sind Folgeschritte und orientieren an der Zielfrage: “Was kann getan werden, damit die jetzige schwierige Notlage für den Minderjährigen behoben wird?“ Die Problembearbeitung nimmt in aller Regel die meiste Zeit in Anspruch. In den Kinder- und Jugendnotdiensten ist es durchaus möglich, dass hierfür nur Stunden bleiben, da der Gesetzestext eine unverzügliche Unterrichtung der Personensorgeberechtigte (PSB) verlangt und diese mitunter ein sofortiges Gespräch suchen. Die Problembearbeitung hat dann in Kooperation mit den PSB zu erfolgen, bzw. muss fortgesetzt werden. Bei Zustimmung der PSB oder Ersetzung der Zustimmung durch das Familiengericht, enormer Akuität der Krise, Hilfeersuchen der Familie nach  § 27 SGB VIII und Perspektivfindung, ist die Zeit der Problembearbeitung länger und kann auch bis zu Wochen dauern. Hier ist die Einbeziehung des Allgemeinen Sozialdienstes und ggf. anderer Institutionen unumgänglich. Die Zusammenarbeit mit ihnen sowie die einzelnen Schritte der Problemklärung müssen für den Betroffenen offen transparent und abgestimmt sein. Der Prozess der sozialpädagogischen Krisenintervention ist gleich dem Modell professionellen Handelns und beruht auf den Säulen: Anamnese, Diagnose, Intervention und Evaluation (siehe auch 1.8.3) 32)  Es kann vorkommen, dass sich im Laufe der Krisenintervention das Problem von einer ganz anderen Seite präsentiert, sich Akzente verschieben, so dass auch Ziele neu definiert werden müssen. 33)  Das soziale Umfeld ist bei der Krisenintervention stets dabei, sei es als Ressource, sei es als Quelle spezifischer Belastungen. Dabei sollten Copingstrategien, die sich bewährt haben, stets unterstützt werden. Dieses umfasst das Wiederaufnehmen des Schulalltags oder regelmäßige Besuche bei Verwandten oder Freunden, aber auch Telefonkontakte zu den Eltern, sofern es Beziehungsstörungen zwischen ihnen und dem Minderjährigen gibt, die die Krise hervorgerufen haben und ein direkter Kontakt, das nicht lindert. Sozialpädagogische Ansätze bei der Problembearbeitung werden gesondert aufgeführt und bleiben daher hier unerwähnt.
 
1.7.6  Abschluss / Re - Evaluation / Evaluation
 
Wesentlicher Bestandteil der Krisenintervention ist der Abschluss. Dieser gelingt meist nur, wenn der Betroffene davon nicht überrascht ist. Sei es nach klärendem Gespräch z.B. mit den Eltern und Übergabe oder nach längerem Aufenthalt ein Überleiten in eine stationäre Hilfe, die von Ablösung, Beendigung der Krisenintervention, auch Trennung begleitet wird. Ist es gelungen, Stressoren zu eliminieren oder, etwa durch Klärung eines Beziehungskonfliktes, in ihrer Wirkung abzuschwächen? Konnten Ressourcen aktiviert oder erschlossen werden? Anders ausgedrückt: Ist es gelungen, die durch die Krise bedrohten „5-Säulen der Identität“ (siehe Punkt 1.7.2) zu stärken und zu entwickeln? Ist es einem Minderjährigen möglich, angeeignete Erkenntnisse anzuwenden, Ressourcen zu erschließen und Copingstrategien einzusetzen?
Kinder und Jugendliche sollten die Möglichkeit erhalten, ihre eigene Einschätzung rückblickend, aber auch mit Blick auf die Zukunft abzugeben. Die Bewältigung von jedem, noch so kleinen Teilschritt im Prozess, ist ein objektiver Erfolg. Sie sollten eine Art Standortbestimmung selbst definieren. Evaluation ist auch das Überprüfen der Rechtsmäßigkeit und Sinnhaftigkeit von Vorgehensweisen und Entscheidungen. Es geht um das Werten von Zielen und Mitteln anhand ethischer  Prinzipien. 34)  Es
wird empfohlen, systematisch auch die Einschätzung der Minderjährigen zu erfassen. Beratung/ Krisenintervention/ Inobhutnahme hat die unterschiedlichsten Erwartungen zu erfüllen. Minderjährigen sollte die Information, in der Nähe erreichbaren Hilfen im Bedarfsfall (Sorgentelefon, ASD; Beratungsstellen etc.) bei Beendigung der Krisenintervention mitgegeben werden.
Die Evaluation der Einrichtung dient dem Erfassen der Ergebnisqualität und deren Sicherung. Die Faktoren Zielerreichung, Zufriedenheit und statistische Aufarbeitung der Arbeit sind dabei primäre Parameter. Instrumente, wie Berichte, Gespräche, Statistiken finden dabei ihre Anwendung. Es gibt keine einheitliche Definition zur Evaluation von Inobhutnahmeeinrichtungen, außer die Erhebungsbögen des statistischen Landesamtes, die dann im statistischen Bundesamt zusammengefasst werden. 35)  
Der AKI  gibt in seiner Präambel Hinweise zur Dokumentation. Die o.g. Faktoren sollten nicht nur auf Minderjährige bezogen sein, sondern es sollten alle Nutzer evaluiert werden, die unmittelbar mit dem Inobhutnahmeprozess zu tun haben. Unter allen Nutzern sind z.B. Minderjährige, Sorgeberechtigte und ASD zu verstehen. Kooperationspartner (z.B. Schule) und deren Zufriedenheit in Bezug auf Zusammenarbeit oder Öffentlichkeitsarbeit könnten Gegenstand von Erhebungen sein.
 
1.8  Interventionsmethoden und sozialpädagogische Ansätze

 
Im Rahmen der Krisenintervention ist die sozialpädagogische Arbeit nach verschiedenen Ansätzen und Methoden möglich. Methoden sollen Kommunikation stiften und zum Handeln anregen. Als Handlungsarten der Sozialarbeit werden bezeichnet: die Beratung, die Verhandlung, die Intervention, die Vertretung, die Beschaffung, die Betreuung. Allen Methoden beinhalten als Instrument der Handlung das Gespräch. Durch den klaren Auftrag der Krisenintervention ist die Methode individuell und sorgsam zu wählen, um ein Coping positiv zu führen.
Die klassische Methode der Krisenintervention ist die klientenzentrierte Einzelfallhilfe. Das pädagogische Handeln der sozialpädagogischen Krisenintervention erfordert ein multiperspektivisches Vorgehen.
Um effektiv beraten, intervenieren und begleiten zu können werden vielfach Anamnesen zum Hilfesuchenden erstellt. Eventuell kann es in der fortführenden Beratung auch ein Genogramm und ein Beziehungsnetz sein. Im weiteren Verlauf ist es nützlich, Sorgeberechtigte und wichtige Bezugspersonen des Klienten einzubeziehen und systemisch zu arbeiten. Nach erfolgter Problemanalyse gilt es das Selbsthilfepotential des Klienten zu stärken und die Problemerkenntnis bzw. Problemlösung durch ihn selbst voranzutreiben.
Hervorgehoben werden sollen hier Ansatzmöglichkeiten der Sozialarbeit, die wesentliche Grundlagen für sozialpädagogische Kriseninterventionsarbeit bilden. 
 
1.8.1  Lebensweltorientierte Sozialarbeit
 

Die Jugendhilfe orientiert sich an den fünf Strukturmaximen:
Alltagsorientierung, Integration, Prävention, Partizipation und Regionalisierung.
Sozialpädagogische Prävention muss informellen Charakter haben und ansetzen, wo interagiert wird, wo Gefährdungen sichtbar werden. Aus dem Blickwinkel der Krisenintervention heißt das, Information über Krisen, ihre Intensität, ihre Geschichte, Grad und Ausmaß der Kindeswohlgefährdung, Krisenarbeit aber auch ggf. Elternarbeit, Aufklärung zur Erziehungsarbeit und für jede Kriseninterventionsstelle Öffentlichkeitsarbeit. Regionalisierung aus dem Blickwinkel einer Kriseninterventionsstelle bedeutet u. E., dass Kontakte zu anderen Institutionen und Einrichtung des öffentlichen Lebens gepflegt werden. Es sollte eine Erreichbarkeit garantiert werden, die für die Minderjährigen ohne enorme Aufwendungen vertretbar ist. 36)  Integration aus Sicht der Krisenintervention bedingt, den niedrigschwelligen Zugang zu gewährleisten. Dazu gehört u.a., jedem in- oder ausländischen Jugendlichen die Gesprächsmöglichkeit zu eröffnen. Es bedeutet, dass Inobhutnahmeeinrichtungen keine Ausschlusskriterien aufstellen, bzw. explizite Angebote vorhalten oder die Möglichkeit schaffen, dass jeder Minderjährige sein Recht bei akuter Not geltend machen kann (hier ist vor allem an suchtkranke Minderjährige, aber auch an Behinderte gedacht). Partizipation zielt darauf ab, Beteiligte mit ihren Entscheidungen zu verstehen, zu respektieren und zu akzeptieren. 
 
1.8.2  Systemische Herangehensweise
 
Eine systemische Herangehensweise setzt voraus, dass die Wirklichkeit unter einem ganz spezifischen Blickwinkel betrachtet wird, dem der Systeme. Offene Systeme sind lebende Systeme. Lebende Systeme sind Menschen, die als soziale Wesen in einen Gesamtzusammenhang (Gesellschaft) eingebettet sind. Merkmal sozialer Systeme ist die Interaktion von Menschen (Systemmitglieder). Wird der Pädagoge tätig und ist gewillt, systemisch an einen Fall heranzugehen, so steht im Vordergrund, die Änderung der Systembeziehungen untereinander. Verhält sich ein Mensch innerhalb des Systems anders als bisher, weil sein Verhalten sich in Art und Weise von erwartetem Verhalten unterscheidet, so wird dies als Krise interpretiert. 37)  
Die
Kommunikationsmuster der Systemmitglieder untereinander entscheiden, ob sich das System an sich auf „Kompetenzen und Ressourcen des Betroffenen oder aber auf Defizite und Pathologie" 38)  des Betroffenen konzentriert. Dann entscheidet sich, ob die Kompetenzen des Individuums ausreichen, die Krise zu einem Ende zu bringen oder ob das Problem möglicherweise zu einer Dauerbelastung werden kann. 
 
1.8.3 Multiperspektivische Fallarbeit
 
Klientenarbeit wird oft als Fallarbeit betrachtet. Einen Fall multiperspektivisch zu betrachten impliziert, dass der Fall aus mindestens zwei Perspektiven gesehen wird. Im folgenden sollen drei dargestellt werden. Dabei wird sich auf Burkhard Müllers Ausführungen bezogen. Multiperspektivisches Vorgehen ist die Betrachtungsweise, nach der sozialpädagogisches Handeln bewusst Perspektivenwechsel erfordert. 39)  Es gilt die verschiedenen Blickwinkel nicht zu vermengen, sondern als relevante Größen für den Einzelnen zu sehen und zu behandeln.
  • „fall von..."
Fall von heißt, dass der Fall ein Beispiel für ein anerkanntes Allgemeines ist. Sozialpädagogisches Handeln ist in Verwaltungshandeln integriert, bzw. diesem unterworfen. Es geht um die Betrachtung des Falles (speziellen) und deren Einordnung (allgemein). Auf Grund des beruflichen Wissens wird der konkrete Einzellfall auf bestimmte Ordnungen, Rechtsbestimmungen und Paragraphen übertragen, z.B. ein Fall des Vernachlässigung von Kindeswohls, von notwendiger Hilfe zur Erziehung, etc. Bei der Übertragung des Gesetzes (allgemein) auf den Einzelfall (speziell), werden Zusammenhänge zwischen beiden hergestellt.
  • „fall für..."
Kinder und Jugendliche in belastenden Lebenssituationen sind vielleicht ein Fall von Krisenintervention. Stoßen Sozialpädagogen an Grenzen des fachlichen Bereiches kommt die Betrachtung "Fall für“, z.B. Jurist, Therapeut, Psychiater hinzu.
Sozialpädagogen müssen sich ggf. speziellen Fachwissens bedienen, um Klarheit zu bekommen. So können sie dem Klienten effektiver helfen oder geeignete Hilfen anbieten (Verweisungswissen).
  • „fall mit..."
„Fall mit“ betrachtet den Aspekt des Miteinander. Das Bearbeiten eines Falles mit dem straffälligen Jugendlichen, dem überforderten Vater etc. Es betrachtet die Regeln eines ordentlichen Miteinander. 40) Treten Menschen miteinander in Kontakt/ Kommunikation, sind bestimmte Regeln selbstverständlich. In der Sozialarbeit haben es Fachleute oft mit Menschen zu tun, die andere Normen und Werte verinnerlicht haben oder andere Umgangsformen pflegen als die Sozialarbeiter selbst. Hinzu kommt die persönliche Integrität , „kann man“ mit dem Klienten, eine Beziehung aufbauen oder nicht. Die Arbeit am „Fall mit“ ist die „Bewältigung der Ungewissheit" 41)  Es ist ein Handeln zwischen Pädagoge und Adressat, dass nicht nur akzeptiert, sondern auch gewollt sein muss. Die Deutung eines Falles aus einem Blickwinkel schließt dabei die Betrachtung der anderen Blickwinkel nicht aus. Diese Betrachtungsweise, es sei hervorgehoben, dass Sozialpädagogik eher die Perspektive des „Falls mit“ reflektiert, sollte im fachlichen, professionellen Handeln beachtet werden. Die klassische Einteilung dieses Handelns ist: Anamnese, Diagnose, Intervention und Evaluation. Die Inobhutnahme  beinhaltet in der Fallbearbeitung diesen Arbeitsprozess.

Sozialpädagogische Anamnese:
               Erstgespräch, Problemanalyse

Definieren von Problemen:                         Diagnose / Problemdefinition, Zieldefinition
Eingriff, das gemeinsame Handeln:            Intervention / Problembearbeitung
Rückblick „Was hat es gebracht?“:            Evaluation / Abschluss, Re-Evaluation/Evaluation

1.8.4 Empowerment
 
Hier ist vor allem „Bemächtigung" gemeint. Bemächtigung impliziert Aneinung, man nimmt etwas in Besitz. Dieses kann ein Buch sein oder, so soll hier auch Empowerment verstanden sein, es stärkt das eigene Selbstbewusstsein. Empowerment ist ein Oberbe
griff, eine Kategorie, die man ausfüllen kann und zielt auf Zufriedenheit, Stolz, Achtung etc. Es sind Prozesse, die eingegangen werden, um das Leben lebenswerter zu fühlen. Empowerment kann beschrieben werden als Ansatz, Klienten Möglichkeiten aufzuzeigen, aus einer passiven Rolle heraus zu finden und sich für sich selbst stark zu machen. Empowerment blickt in die Zukunft und beschreibt, was für den Betroffenen möglich wäre. Der Mensch soll Akteur seines eigenen Lebens werden. Empowerment bleibt auf jeden individuell bezogen. Ausgangspunkt ist bei Empowerment-Prozessen, dass Klienten sich in Situationen befinden, denen sie selbst aus eigener Kraft nicht mehr entrinnen können (Krisensituationen). Es fehlen ihnen die nötigen Ressourcen oder das nötige soziale Beziehungsgeflecht.
 
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Literaturverzeichnis
Druck-Version des gesamten Artikels


  
AKI, April 2009

1) vgl. Brandtstädter, 1982, S.81
2) vgl. Aguilera, 2000, S.71
3)
vgl. Dross, 2001, S.10
4)
vgl. Ulich, 1987, S.6
5)  vgl. Schnyder/Souvant (Hrsg.),  2000, S.16

6)
International Classification of Diseases and Related Health Problems der Weltgesundheitsorganisation
7)
Diagnostisches und Statistisches Manual psychischer Störungen der American Psychiatric Association von 1987
8)
vgl. Schnyder/Sauvant , 2000, S.17
9)
vgl. Ulich, 1987, S.37

10)
vgl. Aguilera, 2000, S.48

11
nach Sonneck, 1997, S.15
12) nach Sonneck, 1997, S.37

13) in: Schnyder/Sauvant, 2000, S.28

14) Ulich, 1987, S.138

15) vgl. Schnyder/Sauvant, 2000, S.28 ff

16) Lohaus, 1990

17) Beck, 1986, S.206

18) ebenda, S. 206

19) ebenda, S. 206

20) ebenda, S. 217
21) Schone, Jordan, 1997, S.21
22) vgl. Wolf, 1994, S.89 ff
23) ebenda, S.86 ff
24) Struck, 1994, S.5 ff
25) ebenda, S.160
26) Jordan / Münder, 1987, S.11 ff
27) vgl. Schnyder / Sauvant 2000, S.57, mit Verweis auf andere Quellen
28) vgl. Schnyder / Sauvant, 200, S.60
29) siehe http://www.schuhfried.co.at/deu/wts/sozu.htm (verfügbar am 31.01.2007)
30) siehe Aguilera, 2000, S.65
31) in Schnyder / Sauvant, 2000, S.64
32) vgl. Müller, 1997, S.50 ff
33) vgl. Schnyder / Sauvant, 2000, S.67
34) vgl. Müller, 1997, S.54
35) http://www-ec.destatis.de/esp/shop/sfg/AeltereTitel.esp?ID=1014987 (verfügbar am 31.01.2007)
36) siehe auch Präambel AKI der IGFH
37) vgl. Boxbücher & Egidi, 1996, S.71f
38) ebenda, S.18
39) vgl. Müller, 1997, S.15
40) ebenda, S.44 ff
41)
siehe: Müller, 1997, S.48
42) aus: Aguilera, S.72
43) aus: Schnyder / Sauvant, 2000, S.41
44) nach U. Schnyder, 1993, aus Schnyder / Sauvant, 2000, S.73
45) Dross, 2001, S.96