Schriftenreihe des Arbeitskreises
Inobhutnahme der IGFH
- Kindeswohl
und Elternsorge -
–
Gegensätzliche Perspektiven bei Inobhutnahme
von Kindern und Jugendlichen?
Anteile von Eltern an einer Inobhutnahme
In der Regel kommen Inobhutnahmen dann zustande,
wenn Kinder /Jugendliche und/oder ihre Eltern durch ein gegebenes
Symptomverhalten miteinander so hilflos geworden
sind, dass jede Hoffnung auf Veränderung verschwunden ist und
nichts als eine Trennung (oder Flucht) in Betracht kommt. Oft ist dabei
das elterliche Befindlichkeitserleben in bezug auf ein identifiziertes
Problem ausschlaggebend. Diese Befindlichkeit der Eltern ist
geprägt von dem Gefühl hoher Ambivalenz,
nämlich einerseits das erdrückende (und sozial
geächtete) Gefühl, als Erziehungsverantwortlicher
versagt zu haben, andererseits aber in der Gewissheit, doch irgendwie
alles mögliche getan zu haben. Der hervorstehendste Aspekt ist
dabei jedoch das Gefühl der Hoffnungslosigkeit
bzw. der Hilflosigkeit auf der Seite der Eltern
(Pleyer, 2003). Für die Betreuung von Kindern und Jugendlichen
(nicht nur) während der Inobhutnahme ist jedoch zu bedenken,
dass in dem Ausmaß, in dem die o.g. elterliche Ambivalenz
bestehen bleibt, das Risiko für das kindliche Symptomverhalten
aufrecht erhalten wird. Damit will ich sagen, dass eine gelingende
Betreuung der Kinder und Jugendlichen nur gut geraten kann, wenn es
möglich wird, mit den Eltern zu
„arbeiten“; sie ins Boot zu holen. Dazu braucht es
eine Haltung, ihnen auch dann „verstehend begegnen zu
können, wenn unpassend erscheinende
Bewältigungsstrategien gegenüber dem identifizierten
Problem als ein Teil des Problemgeschehens zu beobachten
sind“ (Pleyer, 2003).
Neben dieser eben skizzierten Hilfebedürftigkeit der
Kinder/Jugendlichen möchte ich für eine Perspektive
werben, die daneben auch die Hilfebedürftigkeit von
Eltern wahrnimmt, die oft ursächlich für
die Inobhutnahme des Kindes oder des Jugendlichen ist.
Wenn man also diese Gedanken wirklich ernst nimmt, dann wäre
die Nicht-Einbeziehung von Eltern in einen Jugendhilfeprozess bzw. die
Grundlegung eines solchen im Grunde eine unterlassene
Hilfeleistung, die dysfunktionale Beziehungsmuster
zementieren hilft.
Ja, aber Inobhutnahme ist doch gar keine Jugendhilfe i.e.S.! Dort muss
doch erst mal „gecleart“ werden, was
überhaupt los ist. Ja, aber mit einer Haltung, die Eltern
(unausgesprochen) pathologisiert oder sonst wie außen vor
lässt (nicht ins Boot holt), produziert man notgedrungen
einseitige Ergebnisse und die essentiell notwendigen Bausteine
für eine später oft notwendige Beratungsarbeit
oder/und Jugendhilfe, können nicht gelegt werden. Diese
Grundlage aber besteht in einer guten Kooperation mit den Eltern und in
dem Gefühl auf Seite der Eltern, mit ihren Befindlichkeiten
von den Helfern verstanden worden zu sein. Dabei bedeutet
„verstehen“ nicht zwangsläufig,
„einverstanden“ sein (Gall, 1997).
Wie sich nun elterliche Hilflosigkeit im einzelnen
zeigt bzw. worin die Hilfebedürftigkeit der Eltern besteht,
soll die Nennung von vier Kardinalsymptomen auf Seiten der Eltern
zeigen (Pleyer, 2003):
a)
Verzerrte Wahrnehmungen und Fehlinterpretationen
„Eltern erscheinen eingeengt in der
Wahrnehmung der vom Kind geäußerten
Bedürfnisse und scheinen an untauglichen Bildern über
dessen Fähigkeiten und Handicaps festzuhalten.“ So
sind die kindlichen Bemühungen, von den Eltern verstanden zu
werden, ständig zum Scheitern verurteilt. Dies frustriert die
Kinder (und die Eltern) und führt in aller Regel zu einer
„Erhöhung des kommunikativen
Aktivitätsniveaus, was wiederum von den Eltern als
provozierendes und aggressives Verhalten i.S. von
Bösartigkeit, als Charakterdefizit oder (gelegentlich mit
Unterstützung von Fachleuten) als Krankheit gedeutet
wird.“
b) Konfliktvermeidung
„Eltern neigen in ihrer Beziehungsgestaltung zum Problemkind
zur Vermeidung von konflikthaften Auseinandersetzungen. Sie weichen
aus, wo sie gefordert sind, Position zu beziehen. Sie vermeiden es,
Entscheidungen zu treffen aus Angst vor den erwarteten Reaktionen des
Kindes.“ Positionierungsversuche der Kinder werden nicht oder
nur unzureichend zur Kenntnis genommen, was Konflikte nicht (wirklich)
verhindert, sondern im Gegenteil. Kinder antworten mit einem Mehr an
Provokationen, um eine Positionierungen der Eltern, eigentlich ihre
psychische und physische Anwesenheit (auch Präsenz
nach Omer & v. Schlippe, 2002) herbeizuführen.
c)
Distanzierung von Verantwortung
„Eltern tendieren zu einer aktiven oder
passiven Abgabe von Betreuungs- bzw. Entscheidungsverantwortung an
Außenstehende.“ Sie suggerieren sich und glauben am
Ende selbst daran, dass nur Experten (nicht aber sie selbst) dem Kind
mit ihrem fachlichen Spezialwissen helfen können. Sie suchen
für die Problemlösung Außenstehende und
erwarten Hilfe von Ärzten, Psychologen, Lehrern u.a.
d)
Defizite in der Kooperation auf Elternebene
„Nahezu alle Eltern zeigen in einer Form einen Mangel an
respektvoll balancierter Bereitstellung väterlicher
(männlicher) und mütterlicher (weiblicher) Ressourcen
für das Kind.“
Statt als Pathologie oder Defizit lässt sich elterliche
Hilflosigkeit auch anders, nämlich als Ressource
verstehen: „Immerhin ist es der Tendenz zur
Verantwortungsabgabe zu verdanken, dass wir als Helfer eine Einladung
und freien Eintritt ins Familiensystem erhalten, um jene
Kontextbedingungen herstellen zu können, die kindliche
Symptombildung in der Zukunft überflüssig
machen“ (Pleyer, 2003).
Man muss nicht gleich die „Therapeutisierung der
Sozialarbeit“ (Conen, 2006) herbeireden, wenn ich nun auf
einige Methoden oder Techniken der Systemischen Therapie und Beratung
zu sprechen komme, die schon während einer Inobhutnahme, also
im Vorfeld einer potentiell möglichen Jugendhilfe, m.E.
sinnvoll eingesetzt werden können: Spontan denke ich dabei an
Dinge wie das Erfragen von Problemdefinitionen bzw.
Perspektiven der einzelnen Beteiligten (Fragen zur
Wirklichkeitskonstruktion, s. v. Schlippe & Schweitzer, 1996),
das Erfragen von Wünschen und Erwartungen
der Beteiligten aneinander bzw. an die Helfer (Fragen zur
Möglichkeitskonstruktion, v. Schlippe & Schweitzer
ebd.) das Erfragen von bisherigen Lösungsversuchen
und aktuellen Lösungsphantasien, den
Einsatz von Methoden wie Genogrammerstellung und
die gemeinsame Aufstellung von Arbeitshypothesen
und Zielformulierungen, dem Familienbrett oder
einem Soziogramm. Dabei stellt sich auch bald
heraus, wer was will bzw. wer Kunde ist (de Shazer, 1989).
All das sind wichtigste Vorarbeiten, die die Aufstellung eines
Hilfeplans erst ermöglichen. Gleichzeitig sorgt man
währenddessen durch eine Haltung der All-Parteilichkeit
und dem damit einhergehenden Respekt
dafür, dass die Bereitschaft zur Mitarbeit
steigt.
Um Missverständnisse zu vermeiden, sei erwähnt, dass
auch eine Haltung, bei der sich die Mitarbeiter der Inobhutnahme als Anwalt
des Kindes verstehen und dabei bewusst nicht eine
All-Parteilichkeit anstreben, durchaus als legitim anzusehen ist.
Manche Fallkonstellationen machen es geradezu erforderlich, die
Verantwortung auf mehrere Schultern zu verteilen, z.B. in
Fällen von (sexuellem) Missbrauch oder körperlicher
Misshandlung. Andererseits geht eine eindeutige Positionierung der
Helfer zu Lasten der Beweglichkeit sowie Akzeptanz und erfordert
naturgemäß die Kooperation mehrerer Helfer bzw.
Institutionen, wenn es um eine Hilfe für die Eltern gehen soll.
AKI,
Dezember 2006
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