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Fachgruppe Inobhutnahme
AKI
der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH)

Frankfurt/Main
Sektion Bundesrepublik Deutschland
der Fédération Internationale des Communautés Educatives (FICE) e.V.

  

Schriftenreihe des Arbeitskreises Inobhutnahme der IGFH

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Kindeswohl und Elternsorge -
 
Gegensätzliche Perspektiven bei Inobhutnahme
von Kindern und Jugendlichen?

 

Anteile von Eltern an einer Inobhutnahme

In der Regel kommen Inobhutnahmen dann zustande, wenn Kinder /Jugendliche und/oder ihre Eltern durch ein gegebenes Symptomverhalten miteinander so hilflos geworden sind, dass jede Hoffnung auf Veränderung verschwunden ist und nichts als eine Trennung (oder Flucht) in Betracht kommt. Oft ist dabei das elterliche Befindlichkeitserleben in bezug auf ein identifiziertes Problem ausschlaggebend. Diese Befindlichkeit der Eltern ist geprägt von dem Gefühl hoher Ambivalenz, nämlich einerseits das erdrückende (und sozial geächtete) Gefühl, als Erziehungsverantwortlicher versagt zu haben, andererseits aber in der Gewissheit, doch irgendwie alles mögliche getan zu haben. Der hervorstehendste Aspekt ist dabei jedoch das Gefühl der Hoffnungslosigkeit bzw. der Hilflosigkeit auf der Seite der Eltern (Pleyer, 2003). Für die Betreuung von Kindern und Jugendlichen (nicht nur) während der Inobhutnahme ist jedoch zu bedenken, dass in dem Ausmaß, in dem die o.g. elterliche Ambivalenz bestehen bleibt, das Risiko für das kindliche Symptomverhalten aufrecht erhalten wird. Damit will ich sagen, dass eine gelingende Betreuung der Kinder und Jugendlichen nur gut geraten kann, wenn es möglich wird, mit den Eltern zu „arbeiten“; sie ins Boot zu holen. Dazu braucht es eine Haltung, ihnen auch dann „verstehend begegnen zu können, wenn unpassend erscheinende Bewältigungsstrategien gegenüber dem identifizierten Problem als ein Teil des Problemgeschehens zu beobachten sind“ (Pleyer, 2003).
  
Neben dieser eben skizzierten Hilfebedürftigkeit der Kinder/Jugendlichen möchte ich für eine Perspektive werben, die daneben auch die Hilfebedürftigkeit von Eltern wahrnimmt, die oft ursächlich für die Inobhutnahme des Kindes oder des Jugendlichen ist.
  
Wenn man also diese Gedanken wirklich ernst nimmt, dann wäre die Nicht-Einbeziehung von Eltern in einen Jugendhilfeprozess bzw. die Grundlegung eines solchen im Grunde eine unterlassene Hilfeleistung, die dysfunktionale Beziehungsmuster zementieren hilft.
  
Ja, aber Inobhutnahme ist doch gar keine Jugendhilfe i.e.S.! Dort muss doch erst mal „gecleart“ werden, was überhaupt los ist. Ja, aber mit einer Haltung, die Eltern (unausgesprochen) pathologisiert oder sonst wie außen vor lässt (nicht ins Boot holt), produziert man notgedrungen einseitige Ergebnisse und die essentiell notwendigen Bausteine für eine später oft notwendige Beratungsarbeit oder/und Jugendhilfe, können nicht gelegt werden. Diese Grundlage aber besteht in einer guten Kooperation mit den Eltern und in dem Gefühl auf Seite der Eltern, mit ihren Befindlichkeiten von den Helfern verstanden worden zu sein. Dabei bedeutet „verstehen“ nicht zwangsläufig, „einverstanden“ sein (Gall, 1997).
  
Wie sich nun elterliche Hilflosigkeit im einzelnen zeigt bzw. worin die Hilfebedürftigkeit der Eltern besteht, soll die Nennung von vier Kardinalsymptomen auf Seiten der Eltern zeigen (Pleyer, 2003):
  
  
a) Verzerrte Wahrnehmungen und Fehlinterpretationen

„Eltern erscheinen eingeengt in der Wahrnehmung der vom Kind geäußerten Bedürfnisse und scheinen an untauglichen Bildern über dessen Fähigkeiten und Handicaps festzuhalten.“ So sind die kindlichen Bemühungen, von den Eltern verstanden zu werden, ständig zum Scheitern verurteilt. Dies frustriert die Kinder (und die Eltern) und führt in aller Regel zu einer „Erhöhung des kommunikativen Aktivitätsniveaus, was wiederum von den Eltern als provozierendes und aggressives Verhalten i.S. von Bösartigkeit, als Charakterdefizit oder (gelegentlich mit Unterstützung von Fachleuten) als Krankheit gedeutet wird.“
  
b) Konfliktvermeidung

  
„Eltern neigen in ihrer Beziehungsgestaltung zum Problemkind zur Vermeidung von konflikthaften Auseinandersetzungen. Sie weichen aus, wo sie gefordert sind, Position zu beziehen. Sie vermeiden es, Entscheidungen zu treffen aus Angst vor den erwarteten Reaktionen des Kindes.“ Positionierungsversuche der Kinder werden nicht oder nur unzureichend zur Kenntnis genommen, was Konflikte nicht (wirklich) verhindert, sondern im Gegenteil. Kinder antworten mit einem Mehr an Provokationen, um eine Positionierungen der Eltern, eigentlich ihre psychische und physische Anwesenheit (auch Präsenz nach Omer & v. Schlippe, 2002) herbeizuführen.

  
c) Distanzierung von Verantwortung

„Eltern tendieren zu einer aktiven oder passiven Abgabe von Betreuungs- bzw. Entscheidungsverantwortung an Außenstehende.“ Sie suggerieren sich und glauben am Ende selbst daran, dass nur Experten (nicht aber sie selbst) dem Kind mit ihrem fachlichen Spezialwissen helfen können. Sie suchen für die Problemlösung Außenstehende und erwarten Hilfe von Ärzten, Psychologen, Lehrern u.a.
  
d) Defizite in der Kooperation auf Elternebene
  
„Nahezu alle Eltern zeigen in einer Form einen Mangel an respektvoll balancierter Bereitstellung väterlicher (männlicher) und mütterlicher (weiblicher) Ressourcen für das Kind.“
  
Statt als Pathologie oder Defizit lässt sich elterliche Hilflosigkeit auch anders, nämlich als Ressource verstehen: „Immerhin ist es der Tendenz zur Verantwortungsabgabe zu verdanken, dass wir als Helfer eine Einladung und freien Eintritt ins Familiensystem erhalten, um jene Kontextbedingungen herstellen zu können, die kindliche Symptombildung in der Zukunft überflüssig machen“ (Pleyer, 2003).
  
Man muss nicht gleich die „Therapeutisierung der Sozialarbeit“ (Conen, 2006) herbeireden, wenn ich nun auf einige Methoden oder Techniken der Systemischen Therapie und Beratung zu sprechen komme, die schon während einer Inobhutnahme, also im Vorfeld einer potentiell möglichen Jugendhilfe, m.E. sinnvoll eingesetzt werden können: Spontan denke ich dabei an Dinge wie das Erfragen von Problemdefinitionen bzw. Perspektiven der einzelnen Beteiligten (Fragen zur Wirklichkeitskonstruktion, s. v. Schlippe & Schweitzer, 1996), das Erfragen von Wünschen und Erwartungen der Beteiligten aneinander bzw. an die Helfer (Fragen zur Möglichkeitskonstruktion, v. Schlippe & Schweitzer ebd.) das Erfragen von bisherigen Lösungsversuchen und aktuellen Lösungsphantasien, den Einsatz von Methoden wie Genogrammerstellung und die gemeinsame Aufstellung von Arbeitshypothesen und Zielformulierungen, dem Familienbrett oder einem Soziogramm. Dabei stellt sich auch bald heraus, wer was will bzw. wer Kunde ist (de Shazer, 1989).
  
All das sind wichtigste Vorarbeiten, die die Aufstellung eines Hilfeplans erst ermöglichen. Gleichzeitig sorgt man währenddessen durch eine Haltung der All-Parteilichkeit und dem damit einhergehenden Respekt dafür, dass die Bereitschaft zur Mitarbeit steigt.
  
Um Missverständnisse zu vermeiden, sei erwähnt, dass auch eine Haltung, bei der sich die Mitarbeiter der Inobhutnahme als Anwalt des Kindes verstehen und dabei bewusst nicht eine All-Parteilichkeit anstreben, durchaus als legitim anzusehen ist. Manche Fallkonstellationen machen es geradezu erforderlich, die Verantwortung auf mehrere Schultern zu verteilen, z.B. in Fällen von (sexuellem) Missbrauch oder körperlicher Misshandlung. Andererseits geht eine eindeutige Positionierung der Helfer zu Lasten der Beweglichkeit sowie Akzeptanz und erfordert naturgemäß die Kooperation mehrerer Helfer bzw. Institutionen, wenn es um eine Hilfe für die Eltern gehen soll.
  
  
AKI, Dezember 2006