Schriftenreihe des Arbeitskreises
Inobhutnahme der IGFH
- § 42a-f SGB VIII -
§ 42a
Vorläufige lnobhutnahme von ausländischen Kindern und Jugendlichen nach unbegleiteter Einreise
(1) Das Jugendamt
ist berechtigt und verpflichtet, ein ausländisches Kind oder einen
ausländischen Jugendlichen vorläufig in Obhut zu nehmen, sobald dessen
unbegleitete Einreise nach Deutschland festgestellt wird. § 42 Absatz 1
Satz 2, Absatz 2 Satz 2 und 3, Absatz 5 sowie 6 gilt entsprechend.
(2)
Das Jugendamt hat während der vorläufigen Inobhutnahme
zusammen mit dem Kind oder dem Jugendlichen einzuschätzen,
- ob das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen durch die Durchführung des Verteilungsverfahrens gefährdet würde,
- ob sich eine mit dem Kind oder dem Jugendlichen verwandte Person im Inland oder im Ausland aufhält,
- ob
das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen eine gemeinsame Inobhutnahme
mit Geschwistern oder anderen unbegleiteten ausländischen Kindern oder
Jugendlichen erfordert und
- ob
der Gesundheitszustand des Kindes oder des Jugendlichen die
Durchführung des Verteilungsverfahrens innerhalb von 14 Werktagen nach
Beginn der vorläufigen Inobhutnahme ausschließt; hierzu soll eine
ärztliche Stellungnahme eingeholt werden.
Auf der
Grundlage des Ergebnisses der Einschätzung nach Satz 1 entscheidet das
Jugendamt über die Anmeldung des Kindes oder des Jugendlichen zur
Verteilung oder den Ausschluss der Verteilung.
(3)
Das Jugendamt ist während der vorläufigen Inobhutnahme berechtigt und
verpflichtet, alle Rechtshandlungen vorzunehmen, die zum Wohl des Kindes
oder des Jugendlichen notwendig sind. Dabei ist das Kind oder der
Jugendliche zu beteiligen und der mutmaßliche Wille der Personen- oder
der Erziehungsberechtigten angemessen zu berücksichtigen.
(4)
Das Jugendamt hat der nach Landesrecht für die Verteilung von
unbegleiteten ausländischen Kindern und Jugendlichen zuständigen Stelle
die vorläufige Inobhutnahme des Kindes oder des Jugendlichen innerhalb
von sieben Werktagen nach Beginn der Maßnahme zur Erfüllung der in § 42b
genannten Aufgaben mitzuteilen. Zu diesem Zweck sind auch die
Ergebnisse der Einschätzung nach Absatz 2 Satz 1 mitzuteilen. Die nach
Landesrecht zuständige Stelle hat gegenüber dem Bundesverwaltungsamt
innerhalb von drei Werktagen das Kind oder den Jugendlichen zur
Verteilung anzumelden oder den Ausschluss der Verteilung anzuzeigen.
(5)
Soll das Kind oder der Jugendliche im Rahmen eines
Verteilungsverfahrens untergebracht werden, so umfasst die vorläufige
Inobhutnahme auch die Pflicht,
- die
Begleitung des Kindes oder des Jugendlichen und dessen Übergabe durch
eine insofern geeignete Person an das für die Inobhutnahme nach § 42
Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 zuständige Jugendamt sicherzustellen sowie
- dem
für die Inobhutnahme nach § 42 Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 zuständigen
Jugendamt unverzüglich die personenbezogenen Daten zu übermitteln, die
zur Wahrnehmung der Aufgaben nach § 42 erforderlich sind.
Hält
sich eine mit dem Kind oder dem Jugendlichen verwandte Person im Inland
oder im Ausland auf, hat das Jugendamt auf eine Zusammenführung des
Kindes oder des Jugendlichen mit dieser Person hinzuwirken, wenn dies
dem Kindeswohl entspricht. Das Kind oder der Jugendliche ist an der
Übergabe und an der Entscheidung über die Familienzusammenführung
angemessen zu beteiligen.
(6) Die vorläufige
Inobhutnahme endet mit der Übergabe des Kindes oder des Jugendlichen an
die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten oder an das aufgrund der
Zuweisungsentscheidung der zuständigen Landesbehörde nach § 88a Absatz 2
Satz 1 zuständige Jugendamt oder mit der Anzeige nach Absatz 4 Satz 3
über den Ausschluss des Verteilungsverfahrens nach § 42b Absatz 4.
§ 42b
Verfahren zur Verteilung unbegleiteter ausländischen Kinder und Jugendlicher
(1) Das
Bundesverwaltungsamt benennt innerhalb von zwei Werktagen nach Anmeldung
eines unbegleiteten ausländischen Kindes oder Jugendlichen zur
Verteilung durch die zuständige Landesstelle das zu dessen Aufnahme
verpflichtete Land. Maßgebend dafür ist die Aufnahmequote nach § 42c.
(2)
Im Rahmen der Aufnahmequote nach § 42c soll vorrangig dasjenige Land
benannt werden, in dessen Bereich das Jugendamt liegt, das das Kind oder
den Jugendlichen nach § 42a vorläufig in Obhut genommen hat. Hat dieses
Land die Aufnahmequote nach § 42c bereits erfüllt, soll das
nächstgelegene Land benannt werden.
(3) Die
nach Landesrecht für die Verteilung von unbegleiteten ausländischen
Kindern oder Jugendlichen zuständige Stelle des nach Absatz 1 benannten
Landes weist das Kind oder den Jugendlichen innerhalb von zwei Werktagen
einem in seinem Bereich gelegenen Jugendamt zur Inobhutnahme nach § 42
Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 zu und teilt dies demjenigen Jugendamt mit,
welches das Kind oder den Jugendlichen nach § 42a vorläufig in Obhut
genommen hat. Maßgeblich für die Zuweisung sind die spezifischen
Schutzbedürfnisse und Bedarfe unbegleiteter ausländischer
Minderjähriger. Für die Verteilung von unbegleiteten ausländischen
Kindern oder Jugendlichen ist das Landesjugendamt zuständig, es sei
denn, dass Landesrecht etwas anderes regelt.
(4)
Die Durchführung eines Verteilungsverfahrens ist bei einem
unbegleiteten ausländischen Kind oder Jugendlichen ausgeschlossen, wenn
- dadurch dessen Wohl gefährdet würde,
- dessen
Gesundheitszustand die Durchführung eines Verteilungsverfahrens
innerhalb von 14 Werktagen nach Beginn der vorläufigen Inobhutnahme
gemäß § 42a nicht zulässt,
- dessen
Zusammenführung mit einer verwandten Person kurzfristig erfolgen kann,
zum Beispiel aufgrund der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien
und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung
eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem
Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig
ist (ABl. L 180 vom 29.6.2013, S. 31), und dies dem Wohl des Kindes
entspricht oder
- die Durchführung des
Verteilungsverfahrens nicht innerhalb von einem Monat nach Beginn der
vorläufigen Inobhutnahme erfolgt.
(5)
Geschwister dürfen nicht getrennt werden, es sei denn, dass das
Kindeswohl eine Trennung erfordert. Im Übrigen sollen unbegleitete
ausländische Kinder oder Jugendliche im Rahmen der Aufnahmequote nach §
42c nach Durchführung des Verteilungsverfahrens gemeinsam nach § 42 in
Obhut genommen werden, wenn das Kindeswohl dies erfordert.
(6)
Der örtliche Träger stellt durch werktägliche Mitteilungen sicher, dass
die nach Landesrecht für die Verteilung von unbegleiteten ausländischen
Kindern und Jugendlichen zuständige Stelle jederzeit über die für die
Zuweisung nach Absatz 3 erforderlichen Angaben unterrichtet wird. Die
nach Landesrecht für die Verteilung von unbegleiteten ausländischen
Kindern oder Jugendlichen zuständige Stelle stellt durch werktägliche
Mitteilungen sicher, dass das Bundesverwaltungsamt jederzeit über die
Angaben unterrichtet wird, die für die Benennung des zur Aufnahme
verpflichteten Landes nach Absatz 1 erforderlich sind.
(7)
Gegen Entscheidungen nach dieser Vorschrift findet kein Widerspruch
statt. Die Klage gegen Entscheidungen nach dieser Vorschrift hat keine
aufschiebende Wirkung.
(8) Das Nähere regelt das Landesrecht.
§ 42c
Aufnahmequote
(1) Die Länder
können durch Vereinbarung einen Schlüssel als Grundlage für die
Benennung des zur Aufnahme verpflichteten Landes nach § 42b Absatz 1
festlegen. Bis zum Zustandekommen dieser Vereinbarung oder bei deren
Wegfall richtet sich die Aufnahmequote für das jeweilige Kalenderjahr
nach dem von dem Büro der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz im
Bundesanzeiger veröffentlichten Schlüssel, der für das vorangegangene
Kalenderjahr entsprechend den Steuereinnahmen und der Bevölkerungszahl
der Länder errechnet worden ist (Königsteiner Schlüssel), und nach dem
Ausgleich für den Bestand der Anzahl unbegleiteter ausländischer
Minderjähriger, denen am 1. November 2015 in den einzelnen Ländern
Jugendhilfe gewährt wird. Ein Land kann seiner Aufnahmepflicht eine
höhere Quote als die Aufnahmequote nach Satz 1 oder 2 zugrunde legen;
dies ist gegenüber dem Bundesverwaltungsamt anzuzeigen.
(2)
Ist die Durchführung des Verteilungsverfahrens ausgeschlossen, wird die
Anzahl der im Land verbleibenden unbegleiteten ausländischen Kinder und
Jugendlichen auf die Aufnahmequote nach Absatz 1 angerechnet. Gleiches
gilt, wenn der örtliche Träger eines anderen Landes die Zuständigkeit
für die Inobhutnahme eines unbegleiteten ausländischen Kindes oder
Jugendlichen von dem nach § 88a Absatz 2 zuständigen örtlichen Träger
übernimmt.
(3) Bis zum 1. Mai 2017 wird die
Aufnahmepflicht durch einen Abgleich der aktuellen Anzahl unbegleiteter
ausländischer Minderjähriger in den Ländern mit der Aufnahmequote nach
Absatz 1 werktäglich ermittelt.
§ 42d
Übergangsregelung
(1) Kann ein Land
die Anzahl von unbegleiteten ausländischen Kindern oder Jugendlichen,
die seiner Aufnahmequote nach § 42c entspricht, nicht aufnehmen, so kann
es dies gegenüber dem Bundesverwaltungsamt anzeigen.
(2) In diesem Fall reduziert sich für das Land die Aufnahmequote
- bis zum 1. Dezember 2015 um zwei Drittel sowie
- bis zum 1. Januar 2016 um ein Drittel.
(3)
Bis zum 31. Dezember 2016 kann die Ausschlussfrist nach § 42b Absatz 4
Nummer 4 um einen Monat verlängert werden, wenn die zuständige
Landesstelle gegenüber dem Bundesverwaltungsamt anzeigt, dass die
Durchführung des Verteilungsverfahrens in Bezug auf einen unbegleiteten
ausländischen Minderjährigen nicht innerhalb dieser Frist erfolgen kann.
In diesem Fall hat das Jugendamt nach Ablauf eines Monats nach Beginn
der vorläufigen Inobhutnahme die Bestellung eines Vormunds oder Pflegers
zu veranlassen.
(4) Ab dem 1. August 2016
ist die Geltendmachung des Anspruchs des örtlichen Trägers gegenüber dem
nach § 89d Absatz 3 erstattungspflichtigen Land auf Erstattung der
Kosten, die vor dem 1. November 2015 entstanden sind, ausgeschlossen.
Der Erstattungsanspruch des örtlichen Trägers gegenüber dem nach § 89d
Absatz 3 erstattungspflichtigen Land verjährt in einem Jahr; im Übrigen
gilt § 113 des Zehnten Buches entsprechend.
(5)
Die Geltendmachung des Anspruchs des örtlichen Trägers gegenüber dem
nach § 89d Absatz 3 erstattungspflichtigen Land auf Erstattung der
Kosten, die nach dem 1. November 2015 entstanden sind, ist
ausgeschlossen. Die Erstattung dieser Kosten richtet sich nach § 89d
Absatz 1.
§ 42e
Berichtspflicht
Die Bundesregierung hat dem Deutschen Bundestag jährlich einen Bericht
über die Situation unbegleiteter ausländischer Minderjähriger in
Deutschland vorzulegen.
§ 42f
Behördliches Verfahren zur Altersfeststellung
(1) Das Jugendamt
hat im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme der ausländischen Person
gemäß § 42a deren Minderjährigkeit durch Einsichtnahme in deren
Ausweispapiere festzustellen oder hilfsweise mittels einer
qualifizierten Inaugenscheinnahme einzuschätzen und festzustellen. § 8
Absatz 1 und § 42 Absatz 2 Satz 2 sind entsprechend anzuwenden.
(2)
Auf Antrag des Betroffenen oder seines Vertreters oder von Amts wegen
hat das Jugendamt in Zweifelsfällen eine ärztliche Untersuchung zur
Altersbestimmung zu veranlassen. Ist eine ärztliche Untersuchung
durchzuführen, ist die betroffene Person durch das Jugendamt umfassend
über die Untersuchungsmethode und über die möglichen Folgen der
Altersbestimmung aufzuklären. Ist die ärztliche Untersuchung von Amts
wegen durchzuführen, ist die betroffene Person zusätzlich über die
Folgen einer Weigerung, sich der ärztlichen Untersuchung zu unterziehen,
aufzuklären; die Untersuchung darf nur mit Einwilligung der betroffenen
Person und ihres Vertreters durchgeführt werden. Die §§ 60, 62 und 65
bis 67 des Ersten Buches sind entsprechend anzuwenden.
(3)
Widerspruch und Klage gegen die Entscheidung des Jugendamts, aufgrund
der Altersfeststellung nach dieser Vorschrift die vorläufige
Inobhutnahme nach § 42a oder die Inobhutnahme nach § 42 Absatz 1 Satz 1
Nummer 3 abzulehnen oder zu beenden, haben keine aufschiebende Wirkung.
Landesrecht kann bestimmen, dass gegen diese Entscheidung Klage ohne
Nachprüfung in einem Vorverfahren nach § 68 der
Verwaltungsgerichtsordnung erhoben werden kann.
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