IGfH - Bundestagung Inobhutnahme -
"Aus der Praxis für die Praxis"
19.09. - 20.09.2013 in Erkner
Tagungsbericht
von Norbert Struck
Vom 19.–20.
September 2019 fand in Erkner bei Berlin die 2. Bundestagung
Inobhutnahme der IGfH statt, die von der Fachgruppe Inobhutnahme
inhaltlich geplant und verantwortet wurde. Schon die Tatsache, dass 260
Menschen teilnahmen und noch etlichen abgesagt werden musste, weil die
Kapazitäten der sehr ansprechenden Tagungsstätte
Bildungszentrum Erkner einfach nicht mehr hergaben, zeigt wie stark das
Interesse an Austausch zwischen den Kolleg*innen in diesem einerseits
vielfältigen andererseits aber oft zu Unrecht wenig beachteten
Handlungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe ist.
Josef Koch, der
Geschäftsführer der IGfH, moderierte – wie gewohnt
gespickt mit Zitaten aus der Literatur – durch die Gesamttagung.
Eröffnet wurde sie durch ein von Bettina Zötsch (BMFSFJ)
verlesenes Grußwort von Frau Bundesministerin Franziska Giffey.
Hans-Ullrich Krause
begrüßte die Teilnehmer*innen als Vorsitzender der IGfH und
Rüdiger Riehm und Andreas Neumann-Witt als Sprecher der
IGfH-Fachgruppe Inobhutnahme.
Die ganze Tagung war als
Arbeitstagung angelegt. 15 Workshops am ersten Tag und 6 Fachforen am
zweiten Tag luden zur Diskussion vieler pädagogischer und
rechtlicher Aspekte der Inobhutnahme ein. Sie wurden jeweils von zwei
Vorträgen eingeleitet.
Zu Beginn der Tagung
referierte Thomas Trenczek, der die Fachgruppe seit 15 Jahren
begleitet, zum Thema »Muss ich, darf ich, kann man« –
Frequently Asked Questions und fachliche Standards der Inobhutnahme.
Die 12 Fragen waren gemeinsam mit der Fachgruppe erarbeitet worden. Auf
jede seiner Antworten, die durch seine einerseits juristische,
andererseits sozialwissenschaftliche Kompetenz und seine
langjährigen Erfahrungen mit dem Thema ebenso konkret wie lebendig
ausfielen, konnte kurz aus dem Plenum nachgeharkt werden. Details wird
man demnächst auch im neuen »Handbuch Inobhutnahme«
der IGfH-Schriftenreihe nachlesen können, das auf der Tagung
angekündigt wurde. In seinem Vorspann betonte Thomas Trenczek,
dass die Inobhutnahme ein höchst anspruchsvolles Handlungsfeld der
Kinder- und Jugendhilfe ist, in dem es oft keine einfachen Antworten
gibt, und in dem die Scheidelinie zwischen »zu früh«
und »zu spät« oft sehr dünn ist. Gewiss kann es
Fehler im fachlichen Handeln geben, zu denen man dann auch stehen muss,
aber die im öffentlichen Diskurs zu oft zu schnell stattfindenden
Pauschalierungen von Einzelfällen überschreiten
regelmäßig die Grenze des Erträglichen –
unterstrich Thomas Trenczek.
Die meisten Inobhutnahmen
werden in Einrichtungen freier Träger durchgeführt (§ 76
SGB VIII) – dennoch bleibt die Inobhutnahme an sich als
hoheitlicher Akt Aufgabe des Jugendamtes, bzw. der bei ihm
zuständigen Fachkraft! Daraus ergibt sich auch, dass jedes
Jugendamt verpflichtet ist einen 24/7-Bereitschaftsdienst vorzuhalten.
Das ist weder auf die Polizei noch auf den freien Träger
delegierbar. Die Praxis hinkt dieser zwingenden Anforderung leider
immer noch mancherorts hinterher. Immer wieder kam er auf das Thema der
fachlichen und rechtlichen Notwendigkeit der Einbeziehung der Eltern in
den Prozess der Inobhutnahme zu sprechen.
»Kann einem
Selbstmelder die Inobhutnahme abgelehnt werden?« war eine weitere
der Fragen. Kann sie nicht! Aber deshalb muss die Jugendhilfeplanung
zwingend dafür sorgen, dass es ein hinreichend differenziertes
Angebot für Inobhutnahmen gibt. Durch eine einzige
Inobhutnahmestelle in der Stadt bzw. dem Landkreis ist die rechtliche
Verpflichtung des öffentlichen Trägers nicht erfüllt!
Deutlich machte er auch:
das Jugendamt hat die Wahrnehmung der elterlichen Sorge nur
treuhänderisch wahrzunehmen. Die Eltern bleiben in ihrem
Sorgerecht – es sei denn es liegt eine anderes regelnde
familiengerichtliche Entscheidung vor. … Es waren spannende zwei
Stunden, in denen der Aufmerksamkeitspegel im Publikum hoch blieb.
Einzig kritisch wurde
angemerkt, dass die Tagungsleitung sich entschieden hatte, das Thema
vorläufige Inobhutnahme von unbegleiteten minderjährigen
Flüchtlingen nach §§ 42 a ff SGB VIII auszuklammern.
Angesichts der Tatsache, dass die als Notmaßnahme getroffenen
Regelungen aus der Situation 2015/2016 mit vielen massiven Belastungen
der jungen Flüchtlinge verbunden sind, ist es an der Zeit hier zu
korrigieren und die Regelungen wieder abzuschaffen oder aber zumindest
gründlich zu modifizieren. Es sei befremdlich, dass dieses Thema
bisher aus dem Reformprozess SGB VIII weitestgehend ausgegrenzt werde.
Hier sei eine fachpolitische Initiative dringend erforderlich.
Danach teilten sich die
Teilnehmer*innen auf 15 verschiedene Workshops auf. Keine Chance als
Tagungsbeobachter hier den Überblick zu behalten. Die Workshops
wurden – nicht nur, aber ganz wesentlich – von den
Mitgliedern der Fachgruppe gestaltet. Es ging in diesen Workshops u. a.
um das Clearing in der Inobhutnahme, ums Krisenmanagement, die
Verweildauer, um Bereitschaftsfamilien, unbegleitete minderjährige
Flüchtlinge, die Arbeit mit Mädchen mit Migrationshintergrund
und Gewalterfahrungen und Inklusion in der Inobhutnahme. Jeder Workshop
stellte eine Wandtapete mit den zentralen Ergebnissen auf, durch den
sich die Teilnehmer*innen grobe Eindrücke verschaffen konnten.
Der zweite Tag begann mit
einem Vortrag von Klaus Wolf zum Thema »Inobhutnahme als
Organisation und sozialpädagogische Gestaltung von
Übergängen« – als »geistiges Band«
der vielfältigen Workshop-Themen – wie Josef Koch mit
Rückbezug auf Goethe den Beitrag ankündigte. Klaus Wolf
arbeitete die Komplexität »kritischer
Lebensereignisse« heraus und die genuin sozialpädagogische
Aufgabe des Perspektivwechsels, des Verstehens der Perspektiven der
involvierten Kinder und Eltern, als Voraussetzung für gelingende
Kommunikation und den Abbau von strukturellen Machasymmetrien, für
die die Fachkräfte die Hauptverantwortung tragen. Drei Zitate aus
der Elternperspektive machten eindrücklich deutlich, welch
nachhaltige Verstörungen die Inobhutnahme eines Kindes
auslösen kann und warum es für sozialpädagogisches
Handeln essentiell ist, sich hierauf verstehend und unterstützend
statt ausgrenzend und sanktionierend zu beziehen. Deutlich wandte er
sich gegen einen »paternalistischen Kinderschutz«: Kind
raus – und Funkstille im Hinblick auf die Eltern. Die
Erklärungen, die Kinder sich in dieser »Funkstille«
über sich, die Ursachen ihrer Situation und die Situation ihrer
Eltern ausdenken, legen den brutalen Kern dieser »hard
cut«-Ideologie überdeutlich offen.
Sechs Fachforen schlossen sich an, mit folgenden Themen
- Übergänge zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie und Kinder- und Jugendhilfe
- »Unbändige Grenzgänger«
- Traumaerstberatung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
- Organisationsvielfalt in der Inobhutnahme
- Kinder von 0–6 Jahren in Inobhutnahme-Einrichtungen
- Elternarbeit in Inobhutnahme-Einrichtungen
Bei der nachmittags
abschließenden Podiumsdiskussion, die Hans Ullrich Krause
moderierte, sollten die sechs Podiumsteilnehmer*innen jeweils
Kernpunkte von wahrgenommenen Problemen während der Tagung kurz
darstellen und anschließend Lösungsoptionen für die von
ihnen benannten Probleme skizzieren. Die Stichworte wurden:
- Auftragsklärung
- »herausfordernde Jugendliche«
- Kooperation
- Rollenklarheit
- Verstopfte Kreativität hinter Routinen
- Elternbeteiligung
Hans-Ullrich
Krause sammelte aus den Teilnehmer*innen dann noch einige
»Fundstücke« ihrer Tagungserfahrung auf. Aber es wurde
immer deutlicher: die Tagung war gut, ertragreich, fordernd –
aber so langsam ging allen auch die Luft aus.
Mehr Austauschmöglichkeiten in Zukunft – zumindest in kleineren Rahmen war noch ein dringlicher Wunsch.
Und schließlich noch einmal: Kümmert Euch um die Abschaffung
oder mindestens Zivilisierung des Bürokratiemonsters
„vorläufige Inobhutnahme“.
Norbert Struck,
norbert-struck@t-online.de
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