IGfH - Bundestagung
"Inobhutnahme als Chance und Herausforderung"
25.09. - 26.09.2013 in Berlin
Tagungsbericht
von Gregor Hensen
Was sind gute
Orte für Kinder, die in Not geraten sind? Wie können wir Zeiten der
Inobhutnahme verringern und wie lassen sich Anschlusshilfen organisieren? Diese
und andere Fragen stellte der Vorsitzende der IGfH, Hans-Ullrich Krause, gleich
zu Beginn der Tagung in seiner Begrüßungsrede und markierte damit die
grundlegenden Themen dieser ersten, bundesweiten Inobhutnahme-Tagung. Über 200
Fachkräfte aus Praxis und Wissenschaft sind aus ganz Deutschland angereist, um
an den beiden Tagen gemeinsam diesen und weiteren Fragen
nachzugehen. Doch die Begrüßung der Tagungsteilnehmer/innen erfolgte nicht nur
durch den Vorsitzenden der IGfH allein. Gerahmt wurde der Einstieg durch
Begrüßungsworte eines Vertreters des Berliner Senats für Jugend und Familie und
– sehr sympathisch – durch die Veranstalter/innen selbst: Lutz Bohnstengel und
Rüdiger Riehm gaben stellvertretend für
die gesamte Fachgruppe Inobhutnahme der IGfH (AKI) persönliche Einblicke,
unterhaltsame Geschichten und vielversprechende Aussichten auf die kommende
Tagung.
Auslöser dieser
Veranstaltung, die sich gezielt dem Arbeitsfeld und der Zukunft der
Inobhutnahme widmete, waren die bis heute zunehmenden Inanspruchnahmezahlen und
die unbefriedigende Anzahl der Betreuungsabbrüche. Es fehlten häufig, so
Krause, passende Anschlussmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche nach dem
Aufenthalt in der Inobhutnahmestelle an weitergehende Jugendhilfeleistungen,
was zu mehrmaligen Kontakten der jungen Menschen mit den Inobhutnahmestellen
führe. Aber auch positive Entwicklungen seien wahrnehmbar; so sei bspw. ein
gestiegenes Vertrauen in
Jugendhilfeangebote und gerade auch in Schutzstellen festzustellen – sog.
„Selbstmelder/innen“ wenden sich vermehrt vertrauensvoll an
Inobhutnahmestellen. Die öffentliche Aufmerksamkeit dieser besonderen
Jugendhilfeleistung ist in den letzten Jahren enorm gestiegen, so dass die von
Krause formulierten Ausgangsfragen nicht nur für Fachkräfte in Schutzstellen
relevant waren, sondern die Jugendhilfe als Ganzes betreffen – weil die
Inobhutnahme auch als „Drehscheibe“ der Jugendhilfe gesehen werden kann und ihr
somit bei der Verhinderung von „Erziehungshilfekarrieren“ (Hamberger) eine
besondere Bedeutung zukommt.
Reinhard Wiesner
übernahm im Folgenden das Mikrofon und lieferte gewohnt souverän wichtige
Einschätzungen zu Entwicklungen und rechtlichen Fragestellungen rund um die
Inobhutnahme. Er bezeichnete diesen hoheitlichen Teil des Jugendamtes auch als
„Brennglas“, in dem alle Spannungsfelder der Jugendhilfe sichtbar werden. Wiesner
ließ anschaulich die Geschichte des KJHG mit den relevanten Novellierungen
(KICK, TAG, BKiSchG) Revue passieren, wobei gerade die aufgenommenen
Zugangsregelungen für unbegleitete minderjährige Neuerungen aus dem Jahre 2005
die Bedeutung der Inobhutnahme gesteigert haben und bis heute nachwirken. Zu
Diskussionen führte im Anschluss von Wiesners Vortrag die Frage nach der Dauer
der Inobhutnahme: Die vielerorts festzustellende Erhöhung der Aufenthaltsdauer
junger Menschen von 3 Monaten und mehr in der Inobhutnahme würde nicht zuletzt
auch durch Versäumnisse der Familiengerichte verursacht, denen es nicht
gelingt, zeitnah eine richterliche Entscheidung hinsichtlich des Eingriffs in
das elterliche Sorgerecht zu finden (auch weil sich Gutachten verzögerten).
Viele der anwesenden Fachkräfte bekräftigten Wiesners These und wiesen darauf
hin, dass die Aufenthaltsdauer junger Menschen unter einer Woche in zunehmendem
Maße abnähme, während langfristige Aufenthalte (von mehr als drei Monaten)
zunähmen.
Das Protokoll
der Tagung sah nun für alle die Möglichkeit der Teilnahme an frei wählbaren
Workshops vor, in denen zentrale Spannungsfelder „aus der Praxis für die
Praxis“ diskutiert werden konnten. Die fachlichen Impulse und Moderationen
lieferten hier allesamt Mitglieder der Fachgruppe Inobhutnahme. Die Ergebnisse
und Diskussionspunkte dieses Nachmittags wurden auf Flipchart festgehalten und
allen Teilnehmer/innen am nächsten Morgen im Rahmen eines „Gallery Walks“ zur
Ansicht gestellt. Die Tagung begann also (nach dem Gallery Walk) offiziell erst
um 9.20 Uhr, was den meisten die Gelegenheit gab, die Erlebnisse des
gemeinsamen Tagungsfestes (mit Buffet und Musik) vom Mittwochabend am
Frühstückstisch zu besprechen. Am Morgen des zweiten Tages war es nun die
Aufgabe des Tagungsmoderators Josef Koch, die Teilnehmer/innen mit einigen
(zerstreuten) Gedanken zur aktuellen Situation der Inobhutnahme und
persönlichen Eindrücken wieder „an Bord“ zu holen – was in jeder Hinsicht
gelang. Dieser kurzen fachlichen Einleitung aus der „Vogelperspektive“ der
Jugendhilfe folgten nun fünf verschiedene Praxisforen, in denen aktuelle
Projekte rund um die Inobhutnahme und Einrichtungsmodelle vorgestellt wurden
und damit Impulse für die eigene Arbeit der Teilnehmer/innen geben konnten. Beim
anschließenden Treffen im Plenum konnte man einer anregenden Podiumsdiskussion
folgen, die von Hans-Ullrich Krause (gewohnt schonungslos, aber sympathisch)
moderiert wurde. Den Fragen von Krause zu den „Möglichkeiten und Grenzen der
Inobhutnahme“ stellten sich Uta Wanicki, Rüdiger Riehm, Lutz Bohnstengel, Isabe
von der Decken und Corinna Petri – allesamt Experten/innen der Inobhutnahme von
freien und öffentlichen Trägern und aus der Wissenschaft. Es wurde bei dieser
Diskussion keine Nabelschau betrieben, sondern vielfach Fragen aufgeworfen, die
das Selbstverständnis der Inobhutnahme zutiefst berühren: Die Frage nach den
„Grenzen der Inobhutnahme“ entzündete sich beim Thema möglicher
Ausschlusskriterien junger Menschen (z.B. bei Drogenkonsum oder psychischen
Erkrankung), die in der Relevanz der Alltagslogik häufig im Widerspruch zu
normativen Grundhaltungen stehen (z.B. Haltung der IGfH gegen eine
ausschließende Jugendhilfe). Weitere „heiße Eisen“ dieser Diskussion waren die
Fragen nach einer möglichen Spezialisierung (und ihren Folgen) sowie die von
Krause gestellte Frage nach einem möglichen Erziehungsauftrag der Inobhutnahme,
der – vor allem hinsichtlich der steigenden Aufenthaltsdauer der jungen
Menschen in den Einrichtungen – zunehmend relevant erscheine. Keine dieser
Fragen konnte abschließend geklärt werden; die Diskussion machte aber noch
einmal – anschaulich, fachlich versiert und unterhaltsam – die besondere Lage
der Inobhutnahme zwischen Recht, Alltagspraxis und fachlichem Anspruch
deutlich.
Die Tagung
endete schließlich mit einem Fachvortrag von Werner Freigang zu
„Sozialpädagogischen (Un-)Möglichkeiten in der Inobhutnahme“. Freigang bezog
sich in seinem Vortrag zu den auf der Tagung diskutierten Spannungsfeldern der
Inobhutnahme (Inobhutnahme als generalisierte „Feuerwehr“, als
Schadensbegrenzung, als Herausforderung etc.) und nahm die Frage nach dem
Erziehungsauftrag wieder auf. Seine provakante These, Inobhutnahme als Versuch
zu verstehen, nicht erziehen zu wollen (oder zu müssen), spiegelt die Diskussion,
wie Freigang es ausdrückt, um die Inobhutnahme als einen „pädagogischen Ort“
oder als einen Ort wie jeden anderen. Man kann seinen Vortrag als Plädoyer
verstehen, die Inobhutnahme als einen Ort einer besonderen Beziehung zu sehen,
an dem familienanaloge Bindungen unangemessen scheinen. Inobhutnahme, so seine
Worte, sei eine Beziehung auf Zeit – wenngleich eine pädagogische, ohne
speziellem pädagogischen Auftrag. Sein abschließender Blick auf die
Besonderheiten der Inobhutnahme zeigen die Inobhutnahme als eine einzigartige
Hilfe, die eben keine Erziehungshilfe, sondern vielmehr der Ort der Klärung
über Ort und Ziel von Hilfen zur Erziehung sei. Sie sei eine sozialpädagogische
Hilfe, in der kaum auf Standards und gängige Beziehungsmuster zurückgegriffen
werden könne und in der kaum Möglichkeiten bestehen, Erfolge aus dieser gemeinsam verbrachten Zeit mit dem jungen
Menschen wahrzunehmen. Dies mache aber unter Berücksichtigung des besonderen
Reflexionsbedarfes den sozialpädagogischen Charakter dieser so einzigartigen
Hilfe – so habe ich Freigang letztlich verstanden – auch aus.
Schlussbetrachtung:
Die große Anzahl der Teilnehmer/innen hat gezeigt, dass das fachliche Interesse
an einer Weiterentwicklung der Inobhutnahme noch nie so groß war wie heute. In
den Diskussionen und Tischgesprächen mit den Teilnehmer/innen wurde sichtbar,
dass die Arbeit mit jungen Menschen in akuten Krisensituationen und Notlagen –
trotz aller benannten Spannungsfelder, Fallstricke und Herausforderungen – ein
interessantes, spannungsreiches und stets veränderndes Arbeitsfeld ist. Dieses
erste bundesweite Treffen hat nicht nur anregende Diskussionen und Erkenntnisse
gefördert, sondern hat vor allem, so mein Eindruck, die Möglichkeiten des
bundesweiten, kollegialen Austausches zu unterschiedlichen Fragestellungen
eröffnet. Es bleibt zu hoffen, dass in zwei Jahren eine zweite Bundestagung
Inobhutnahme realisiert werden kann – die Veranstalter haben jedenfalls mit
dieser gut organisierten und interessanten Tagung die „Messlatte“ hoch
gelegt.
Gregor Hensen, g.hensen@hs-osnabrueck.de
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