Anforderungen an die MitarbeiterInnen in Inobhutnahmeeinrichtungen
Einleitung
Die
(sozial-) pädagogische Arbeit mit Minderjährigen im Rahmen der Inobhutnahme
unterscheidet sich vielfältig und auf z.T. gravierende Weise von anderen
pädagogischen Tätigkeiten innerhalb der stationären Jugendhilfe oder in
Familien, z.B. im Rahmen von (Bereitschafts-) Pflegestellen.
In einer
stationären Wohngruppe oder einer Pflegefamilie sind die Abläufe, außer von den
beteiligten Individuen, von Aspekten eines Hilfeplans, Einrichtungsroutinen
oder regelhaften Tagesabläufen gekennzeichnet. Krisenhafte Verläufe zeichnen
sich i.d.R. ab und lassen Zeit und Handlungsspielräume für Interventionen.
Dem
gegenüber ist die pädagogische Arbeit in der Inobhutnahmeeinrichtung immer
Krisenbewältigung bzw. -begleitung. Da Krisen nicht planbar sind, finden die
Aufnahmen in solchen Settings ungeplant und regelmäßig ohne Vorbereitung, also ad
hoc, statt. Die Inobhutnahme-Settings sind durch einen permanenten Wechsel neu
ankommender bzw. das Setting wieder verlassender Kinder und Jugendlicher
gekennzeichnet. Dabei ist die Verweildauer individuell extrem unterschiedlich: von
wenigen Stunden, über Tage bis hin zu mehreren Wochen oder sogar Monaten.
Pädagogische
MitarbeiterInnen in Inobhutnahmeeinrichtungen stehen vor der ständigen
Anforderung, geplante Abläufe zurückzustellen, um sich Neu-Aufnahmen,
krisenhaften Betreuungsverläufen oder allgemein neuen Entwicklungen zu widmen.
Dabei gilt es, regelmäßig Gefährdungseinschätzungen vorzunehmen, den Focus bei
den Kindern und Jugendlichen zu haben, telefonische Erreichbarkeit bzw. die
Kommunikation zu den diversen Partnern außerhalb des Inobhutnahme-Settings
aufrecht zu erhalten, z.B. zu Eltern, Polizei, KJP, sowie umfangreich zu
dokumentieren.
Ein
Inobhutnahme-Setting bedeutet ein hoch dynamisches Bündel von z.T.
psychiatrischen und/oder komplexen Symptomatiken, ohne kohärente, stabile
(Gruppen-) Situationen.
Sich auf dieses
hoch dynamische „System Inobhutnahme“ einzustellen, stellt an die pädagogischen
MitarbeiterInnen besondere Anforderungen. Nachfolgend sind diese benannt und
kurz beschrieben.
Das Anforderungsprofil
kann sowohl eine Entscheidungshilfe für BewerberInnen darstellen als auch
Einrichtungsleitungen bei Einstellung und Mitarbeiterpflege unterstützen.
1. Flexibilität
Die
MitarbeiterInnen in Inobhutnahmeeinrichtungen besitzen ein hohes Maß an
Flexibilität. Gruppendynamische Prozesse und Anforderungen an diese können sich
täglich verändern. Sie haben die Bereitschaft und die Fähigkeit, sich in jedem
Dienst auf evtl. verändernde Anforderungen und eine veränderte Zusammensetzung
der Minderjährigen einzulassen. Grundlage dafür ist ein hohes Maß an positiver
Neugierde und das Eingehen, bzw. Loslassen neuer Arbeitsbeziehungen. Ebenso
verfügen sie über eine offene (und wertfreie) Grundhaltung gegenüber neuen
Minderjährigen und neuen Fragestellungen.
Elementar
ist darüber hinaus die Fähigkeit, sich in partiell gleichenden Krisen und
Notlagen motivieren zu können, individuelle Besonderheiten zu finden und zu erkennen,
um dem jeweiligen Einzelfall gerecht zu werden. Für den Arbeitsalltag erfordert
dies die Bereitschaft und die Fähigkeit, zugewandt und spontan die
Anforderungen von Kriseninterventionen zu bewältigen und die Sicherung des
Kindeswohles zu gewährleisten. Daher sind die MitarbeiterInnen in
Inobhutnahmeeinrichtungen zeitlich und inhaltlich flexibel, sorgen für die
entsprechenden Rahmenbedingungen und können so den individuellen Anforderungen
gerecht werden.
2. Belastbarkeit –
Individuum und Team
MitarbeiterInnen
innerhalb einer Inobhutnahmeeinrichtung sind in hohem Maße belastbar.
Sie
verfügen vor allem über Frustrationstoleranz, persönliche
Bewältigungsstrategien, über eine ausgeprägte Fähigkeit zur Abgrenzung, Humor,
Optimismus (Blick für die Lösungen) sowie Teamfähigkeit und behalten den
Überblick in akuten herausfordernden Situationen.
3. Beziehungsfähigkeit auf
begrenzte Zeit
MitarbeiterInnen
sind gefordert, sich immer wieder neu auf Beziehungen zu den untergebrachten
jungen Menschen einzulassen und dabei ein professionelles Nähe-Distanz-Verhältnis
zu gestalten. Zum einen erfordert dies die Fähigkeit, schnell in Kontakt treten
zu können. Zum anderen wird die Kompetenz benötigt, jederzeit in den
Ablöseprozess einzusteigen.
4. Krisensicheres Handeln,
Deeskalationsstrategien
Aufgrund
der häufigen und unberechenbaren Krisensituationen in Inobhutnahmeeinrichtungen,
ist das Beherrschen von deeskalierenden Strategien eine wesentliche Anforderung
an die MitarbeiterInnen. Dazu sind ein selbstsicheres Auftreten, das Kennen der
eigenen Grenzen sowie Handlungssicherheit notwendig.
5. Gesprächs- und
Kommunikationskompetenzen
Im
Inobhutnahmeprozess finden besonders
viele Erstgespräche und -Kontakte statt. Die notwendigen Kernkompetenzen der Kommunikation
und der Gesprächsführung sollten ausgeprägt vorhanden sein. Dazu gehört auch
die Kompetenz, Gespräche leiten zu können.
6. Systemisches
Grundverständnis
Zur
gelingenden Konfliktbearbeitung und Entwicklung von Perspektiven ist ein
systemisches Grundverständnis in der pädagogischen Haltung der MitarbeiterInnen
eine entscheidende Voraussetzung.
Systemisches
Grundverständnis meint dabei, den Menschen und alle seine sozialen Bezüge als
ein vielschichtiges System zu betrachten. Jeder ist in verschiedenen
Beziehungen involviert und diese Beziehungen stehen in direktem und reflexivem
Zusammenhang.
MitarbeiterInnen
verfügen über eine Haltung, in der sie das Problemverhalten des Familiensystems
als ein Lösungsverhalten betrachten können.
7. Multiproblemlagenkompetenz
Die
MitarbeiterInnen einer Inobhutnahmeeinrichtung benötigen Wissen, das in die
Tiefe und in die Breite geht. Sie sind bereit und in der Lage, dieses jeder
Zeit zu erweitern.
Dazu
gehören z. B. unvorhersehbare pädagogische, pflegerische und psychologische
Anforderungen. MitarbeiterInnen können in sehr kurzer Zeit, mit wenigen
Informationen aktuelle, sich kurzfristig verändernde und vielschichtige
Problemlagen analysieren, Bewältigungsstrategien erarbeiten und Perspektiven
entwickeln. Sie erkennen die möglichen Verflechtungen der Problemlagen, setzen
Prioritäten und beziehen diese zur Lösung der aktuellen Krise ein.
8. Selbst – und
Reflexionsfähigkeit
Ein
weiteres Element für eine erfolgreiche Arbeit im Kontext der Inobhutnahme ist
im besonderen Maße die Selbst- und Reflexionsfähigkeit.
Dazu
gehört die Fähigkeit, Prozesse, Abläufe, Personen und deren Verhaltensweisen
und/oder Haltungen zu reflektieren. Die Selbstreflexion meint dabei auch die
kritische Auseinandersetzung mit eigenen biografischen Erfahrungen und dem
eigenen Handeln.
9. Entscheidungsfähigkeit
und Entscheidungsfreude
MitarbeiterInnen
aus Inobhutnahmeeinrichtungen müssen den Mut und die Fähigkeit haben, situationsabhängig
und ggf. auf der Basis von wenigen Informationen zeitnah Entscheidungen zu treffen.
Sie müssen ein Bewusstsein für die Tragweite ihres Handelns haben.
10.
Administrationskompetenz, Verwaltungshandeln, Fähigkeit zur Dokumentation
Unabdingbar
ist das Verständnis für die erhöhte Notwendigkeit von Dokumentation sowie die
Fähigkeit zum Verwaltungshandeln. Dazu müssen Sachverhalte sowohl mündlich als
auch schriftlich aussagekräftig und nachvollziehbar ausgedrückt werden können.
Wissen über Rechtsgrundlagen und administrative Abläufe sowie Datenschutzbestimmungen
sind dafür Voraussetzung.
11.
Persönlichkeit, Haltung, Resilienz und Motivation
MitarbeiterInnen
in Inobhutnahmeeinrichtungen verfügen über die Fähigkeit, auftretende Krisen
mit allen Beteiligten lösungsorientiert zu bearbeiten. Sie strahlen Sicherheit
und Glaubwürdigkeit aus. Mit zugewandter Haltung stabilisieren sie zunächst und
entwickeln dann Perspektiven.
Die
häufige Konfrontation mit äußerst belastenden Lebensgeschichten junger Menschen
erfordert von den MitarbeiterInnen ein gefestigtes Auftreten und ein besonders
hohes Maß an Resilienz, Selbstfürsorge und Psychohygiene.
MitarbeiterInnen müssen „aus dem Stand“
bereit sein, sich mit unterschiedlichsten Gegebenheiten, Problemlagen und
Personen auseinanderzusetzen, ohne eine Auswahl der zu betreuenden Person zu treffen.
12.
Interkulturelle Kompetenz
Es
ist von elementarer Bedeutung anderen Kulturen und Lebensmodellen jederzeit
offen zu begegnen. Im Bewusstsein der Verschiedenheit müssen MitarbeiterInnen bereit und fähig sein, Gemeinsames zu erkennen und Unterschiede mit
Interesse wahrzunehmen und in die praktische Arbeit umzusetzen.
Neumünster,
29.04.2016
Fachgruppe
Inobhutnahme der IGFH
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